I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 16. 81
Das Allgemeine Landrecht ist keineswegs von Gleichgültigkeit oder gar Haß gegen
die christliche Religion, insbesondere gegen die katholische Kirche getragen, es setzt viel-
mehr den Preußipchru Staat kurzer Hand als einen christlichen Staat mit absoluter
Parität der drei großen Religionsparteien. Aber wie es seiner Entstehung nach dem
Zeitalter Friedrich des Großen, also dem Zeitalter der Aufklärung, angehört, so sind
jedenfalls seine das Verhältniß zwischen Staat und Kirche regeluden Bestimmungen
von Friedericianischen und Josephinischen Ideen durchdrungen. Es war daher die Aufgabe
des Preußischen Gesetzgebers, dieselben durch eine Specialgesetzgebung fortzubilden, welche
den sich mehr und mehr entwickelnden und daher auch verwickelnden Verhältnissen“
gerecht ward und zugleich die Befugnisse der staatlichen Kirchenhoheit scharf von denen
des Kirchenregimentes schied. Durch die päpstliche Bulle De salute animarum vom
16. Juli 1821 in Verbindung mit dem gleichdatirten päpstlichen Breve an die Preußischen
Kapitel und durch die jene Bulle sanktionirende Kabinetsordre vom 23. August 1821
(Ges.-Samml. S. 113) wurde zwar für die katholische Kirche eine geordnete Verfassung
erreicht, aber an den Aufbau einer evangelischen Kirchenverfassung wurde kaum die Hand
gelegt, und nach dem allgemeinen Urtheil jene Aufgabe nicht gelöst. Vorzugsweise im
Hinblick auf die Lage der evangelischen Kirche ergingen daher Art. 15, 16, 18 der Ver-
fassungsurkunde. Während aber die evangelische Kirche Mangels einer geordneten und
einheitlichen Verfassung daran gehindert war, vermochte die katholische Kirche vermöge ihrer
straffen Organisation die Verfassungsbestimmungen um so reichhaltiger auszunutzen, als
die Staatsverwaltung sich ihr gegenüber in einc völlig passive Haltung zurückzog. Als
nun mit Beginn der siebziger Jahre — in dem sog. Kulturkampf — ein Zusammenstoß
zwischen der Staatsgewalt und der katholischen Kirche erfolgte, erhob sich über Bedeutung
und Tragweite der Verfassungsbestimmungen ein lebhafter Streit. Die Staatsregierung
ging von der Ansicht aus, daß, wie durch die Art. 16 und 18 nur bestimmte Aeußerungen
des Loheitsrecht ausdrücklich beseitigt, so durch Art. 15 nur auf die positive Theilnahme
der Staatsgewalt an der Anordnung und Verwaltung der eigenen Angelegenheiten der
Kirchen und überhaupt aller Religionsgesellschaften verzichtet, der Kirche nur die Kirchen-
gewalt, das jus in Sacra, zurückgegeben sei. Von der anderen Seite wurde in Art. 15
eine vollständige Aufhebung der staatlichen Kirchenhoheit, des jus circa sacra, gefunden,
für welche Ansicht man sich auf die seit Emanation der Verfassungsurkunde beobachtete
staatliche Verwaltungspraxis berufen konnte. Zur Behebung dieser Kontroverse erging das
Gesetz, betreffend die Abänderung der Artikel 15 und 18 der
Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Vom 5. April 1873. (Ges.=
Samml. S. 143.)
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen 2cc.
verordnen, unter Zustimmung beider Häuser des Landtages Unserer Monarchie,
was folgt:
Einziger Artikel.
Die Artikel 15 und 18 der Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850 sind
aufgehoben.
An die Stelle derselben treten folgende Bestimmungen:
Artikel 15.
Die evangelische und die römisch-katholische Kirche, sowie jede andere Religions-
gesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbstständig, bleibt aber den
Staatsgesetzen und der gesetzlich geordneten Aufsicht des Staates unterworfen.
Mit der gleichen Maßgabe bleibt jede Religionsgesellschaft im Besitz und
Genuß der für ihre Kultus-, Unterrichts= und Wohlthätigkeits zwecke bestimmten An-
stalten, Stiftungen und Fonds.
Artikel 18.
Das Ernennungs-, Vorschlags-, Wahl- und Bestätigungsrecht bei Besetzung
kirchlicher Stellen ist, soweit es dem Staat zusteht und nicht auf dem Patronat
oder besonderen Rechtstiteln beruht, aufgehoben.
Auf Anstellungen von Geistlichen beim Militär und an öffentlichen Anstalten
findet diese Bestimmung keine Anwendung.
Im Uebrigen regelt das Gesetz die Befugnisse des Staates hinsichtlich der
Vorbildung, Anstellung und Entlassung der Geistlichen und Religionsdiener und
stellt die Grenzen der kirchlichen Disziplinargewalt fest.
Schwarp, Preußische Verfassungsurkunde. 6