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I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 21.
ganze Unterrichtswesen regeln soll, kann nämlich nur die Organisirung des Schul-
und Unterrichtswesens auf der Grundlage der Vorschriften der Art. 20—25 zur
Aufgabe haben, keineswegs aber kann und darf dieses Gesetz die durch die Art. 20
bis 25 bereits verfassungsmäßig festgestellten Grundsätze anders gestalten. Insoweit
also die Grundsätze der Art. 20—25 zu ihrer Verwirklichung gar keines weiteren
Organisationsgesetzes bedürfen, sind sie durch die Uebergangsbestimmung des Art. 112
nicht für suspendirt zu erachten, sondern es tritt an und für sich auch bezüglich der
vor Emanation der Verfassungsurkunde ergangenen Gesetze und Verordnungen über
das Schul= und Unterrichtswesen die Vorschrift des unter den „allgemeinen Be-
stimmungen“ der Verfassungsurkunde enthaltenen Art. 109 in Wirksamkeit, daß
diese vor Emanation der Verfassungsurkunde erlassenen Gesetze und Verordnungen
nur insoweit in Kraft geblieben sind, als sie nicht der Verfassung zuwiderlaufen.
Insoweit aber die Grundsätze der Art. 20—25 zu ihrer Verwirklichung erst noch
des Erlasses des in Art. 26 verheißenen Gesetzes bedürfen, sind sie bis dahin sus-
pendirt, und verbleibt es bei den betreffenden vor Emanation der Verfassungs-
urkunde ergangenen gesetzlichen Bestimmungen.
Und v. Schulze Bd. 2 § 224 S. 338 sagt ebenmäßig:
...... da ein solches Gesetz über das ganze Unterrichtswesen bis jetzt
aber noch nicht zu Stande gekommen ist, so sind die Art. 20—25, soweit sie zu
ihrer Verwirklichung noch des Erlasses des im Art. 26 verheißenen Unterrichtsgesetzes
bedürfen, als suspendirt anzusehen und verbleibt es bei den betreffenden, vor Erlaß
der V.-U. ergangenen gesetzlichen Bestimmungen. Dagegen darf das im Art. 26
verheißene Gesetz, welches das ganze Unterrichtswesen regeln soll, sich keineswegs
von den bereits in Art. 20—25 festgesetzten Vorschriften entfernen, wenn es nicht
zugleich in der Form eines verfassungsändernden Gesetzes auftreten will.
Dagegen erklärt Gneist (in der Schrift Die konfessionelle Schule. Ihre Unzu-
lässigkeit nach Preußischen Landesgesetzen und die Nothwendigkeit eines Verwaltungs-
gerichtshofes, 1862, S. 12) die Art. 20 bis 25 für „Zukunftsrecht", hält sie also für absolut
suspendirt. Derselben Ansicht sind G. Meyer (Lehrbuch des Deutschen Verwaltungs-
rechts, 1883, Bd. 1. S. 222), Löning (Lehrbuch des Deutschen Verwaltungsrechts
1884, S. 738, 752), Hue de Grais § 301 S. 361 Anmerk. 5, Boruhak, Bd. 3
S. 672, Stengel S. 527, und Arndt ad h. I. Eine Art von Mittelweg schlägt ein
Bierling (Die konfessionelle Schule in Preußen, 1885, S. 12, 10.)), nach welchem die
Art. 20 bis 25, soweit sie mit den bisherigen gesetzlichen Bestimmungen nicht in Wider-
spruch stehen,
als oberste Verwaltungsmaximen anzusehen und als solche für alle weiteren Ver-
waltungsanordnungen auf dem Unterrichtsgebiete so lange bindend sind, als sie
nicht im Wege der Verfassungsänderung beseitigt oder durch neue Gesetze unaus-
führbar gemacht sind.
Von diesen drei Meinungen ist jedenfalls die zweite die richtige. Wäre der Art. 112
nicht vorhanden, so wären die Art. 20 bis 25 sofort geltendes Recht und zwar mit der
doppelten Wirkung, daß sie
1. die bisherige Schul= und Unterrichtsgesetzgebung, soweit dieselbe- mit ihnen in
Widerspruch stände, beseitigt hätten,
2. für die nunmehrige Schul= und Unterrichtsverwaltung bindend wären.
Die erste Konsequenz hat der Art. 112 verhindert. Die bieherige Schul- und
Unterrichtsgesetzgebung ist auch in denjenigen Theilen bestehen geblieben, in denen sie
mit den Art. 21 bis 25 dissentirt. Damit ist aber auch eo ipso die zweite Konsequenz
weggefallen, denn wenn die bisherige Gesetzgebung in allen ihren Theilen geltendes
Recht geblieben, so ist sie natürlich auch für die Schul= und Unterrichtsverwaltung seit
Emanation der Verfassungsurkunde bindend, und für die Art. 21 bis 25 bleibt kein Be-
wegungsraum übrig. Es läßt sich nicht einmal behaupten, daß sie Zukunftsrecht seien,
da es dem Gesetzgeber nicht verwehrt ist, sie durch das zu dem Zwecke in der Form
eines verfassungsändernden Gesetzes auftretende allgemeine Unterrichtsgesetz aufzuheben.
Sie haben, wie in diesem Falle eingeräumt werden muß, nur die Bedentung allgemeiner
Verheißungen. Lediglich das kann zugegeben werden, daß die Unterrichtsverwaltung,
soweit nicht die bestehenden Gesetze es verhindern, die Art. 21 bis 25 schon jetzt thatsäch-
lich anwenden darf.
Mit dieser Ansicht stimmt auch die bisherige Judikatur überein: Obertribunal,
12. Oktober 1871, und 14. Juni 1877, Entscheidungen Bd. 73 S. 406 und Bd. 80
S. 377.