Full text: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.

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I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 21. 
Ermangelung einer anderweitigen Bestimmung des Vaters — oder beider Eltern — das 
Kind eines evangelischen Christen nur zur Theilnahme an dem evangelischen, nicht an 
dem katholischen, umgekehrt das Kind eines Katholiken nur zur Theilnahme an dem 
katholischen Religionsunterricht genöthigt werden darf, selbst wenn es sonst wegen 
Mangel an Gelegenheit und Mitteln ohne allen Religionsunterricht bleiben müßte. Auch 
ist wirklich von jeher die Zahl der Kinder nicht gering gewesen, die aus diesem Grunde 
eines ausreichenden Religionsunterrichts völlig entbehren. 
Das Vorgetragene bezieht sich zunächst auf die Mitglieder der drei großen christ- 
lichen Kirchen, aber reicht über sie hinaus. Denn es ist unzweifelhaft eine schwere Be- 
einträchtigung der Bekenntniß- und Gewissensfreiheit, die Kinder eines Juden, mögen sie 
auch aus Mangel an Gelegenheit und an Mitteln weder auf privatem Wege noch in 
einer öffentlichen Schule Unterricht in der jüdischen Glaubenslehre erhalten, zur Theil- 
nahme an dem christlichen Religionsunterricht in der Volksschule zu zwingen, obgleich, 
wenn das Vorgetragene irrig, die Schulaufsichtsbehörde zur Anwendung eines solchen 
Zwanges nicht bloß befugt, sondern verpflichtet wäre. Ebenmäßig ist der Zwang un- 
ulässig gegenüber den Dissidenten, d. h. den Mitgliedern derienigen Religionsgemein- 
schalteg welche sich von den drei christlichen Hauptkonfessionen losgesagt haben (siehe 
Anmerk. A. zu Art. 13, oben S. 77/78), denn das Bestimmungsrecht der dissidirenden 
Eltern bezüglich der Erziehung der Kinder ist gerade dasselbe, wie das der evangelischen, 
katholischen, jüdischen Eltern: bis zur Erreichung des s. g. Unterscheidungsalters, des 
annus discretionis, haben auch hier die Eltern, zunächst der Vater, über den ihren 
Kindern zu ertheilenden Religionsunterricht zu bestimmen. 
Der schroffste Fall ist natürlich der, wenn Jemand nicht Mitglied einer seit 
Generationen einer dissidirenden Religionsgemeinschaft angehörigen Familie ist, sondern 
sich bisher zu einer der drei Hauptkirchen bekannt hat und nunmehr in rechtsgültiger Weise 
— in Gemäßheit des Gesetzes, betreffend den Austritt aus der Kirche, vom 14. Mai 1873, 
Ges.-Samml. S. 207 — aus der Kirche tritt. Hat er die Gelegenheit und die Mittel, 
seinen Kindern den Religionsunterricht seiner neuen Religionsgemeinschaft angedeihen 
zu lassen, so ist er dazu, eventuell durch Zwangsmaßregeln, anzuhalten. Hat er die 
Gelegenheit und Mittel aber nicht, so darf er gleichwohl nicht genöthigt werden, seine 
Kinder in die Religionsstunde der Volksschule seines Wohnortes zu senden. Denn 
andernfalls müßte er dies auch, wenn an seinem Wohnorte ebenfalls die Gelegenheit 
mangelt, den Kindern Unterricht in dem Bekenntniß der bisherigen väterlichen Religion 
zu ertheilen, müßte also z. B. ein Unirter, der in einer rein katholischen Gemeinde zu 
den Altlutheranern übertritt, genöthigt werden, seine Kinder in den katholischen Reli- 
gionsunterricht zu senden. Es ist selbstverständlich, daß der Dissident zur Vermeidung 
von Zwangsmaßregeln der Schulaufsichtsbehörde seinen Austritt aus der Kirche anzeigen 
und beweisen muß. Ebenso muß er nachweisen, daß er für den anderweitigen Religions- 
unterricht seiner Kinder genügend sorgt oder, falls er nicht dafür sorgt, aus Mangel an 
Mitteln und Gelegenheit dafür zu sorgen nicht im Stande ist. Dagegen bedarf er keiner 
Erlaubniß, keiner besonderen Dispensation seitens der Schulaufsichtsbehörde, um von 
der Strafe der Schulversäumniß befreit zu sein. Die Einholung einer Erlaubniß ist 
nicht bloß nicht gesetzlich vorgeschrieben, sondern das Verlangen ihrer Einholung steht 
mit dem geltenden Rechte in direktem Widerspruch. Die Schulaufsichtsbehörde kann 
eben, sobald der Austritt aus der Kirche feststeht, nach dem geltenden Rechte dem Vater 
das von ihm eingehaltene Verfahren nicht verbieten, folglich auch, ohne hierzu gesetzlich 
ermächtigt zu sein, die Legalität seines Verfahrens nicht von ihrer Erlanbniß abhängig 
machen. Die die Einholung einer solchen Erlaubniß — die Stellung eines Antrages 
auf Dispensertheilung — für nöthig erklärenden Ministerialerlasse (vom 26. Januar 
1875 und 11. Juni 1877, Centralblatt für die gesammte Unterrichtsverwaltung 1875 
S. 90 und 1877 S. 329) und sonstigen Regiminalverordnungen sind kurzer Hand ungültig. 
Tritt Jemand aus der Kirche aus, ohne in eine andere Religionsgemeinschaft 
einzutreten, wird er schlechthin konfessionslos, so können seine Kinder auch dann nicht 
angehalten werden, dem Religionsunterricht in einer öffentlichen Schule beizuwohnen, 
wenn sie trotz Gelegenheit und Mittel überhaupt keinen Religionsunterricht erhalten. 
Dies ist allerdings mit den Bestimmungen des vor der Verfassungsurkunde liegenden 
älteren Rechts, auch des Allgemeinen Landrechts, schwer vereinbar, ist aber eine Folge 
der durch das Gesetz vom 14. Mai 1873 gegebenen Möglichkeit, schlechtweg aus jeder 
Religionsgemeinschaft zu scheiden. Diese Folge wird dadurch gemildert, daß mit Er- 
reichung des Unterscheidungsalters, also in einem großen Theil der Monarchie noch 
während der Zeit der Schulpflicht, die Kinder des konfessionslosen Vaters selbst ihre
	        
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