I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 21. 93
Konfession bestimmen können. Die gleichwohl stattfindende Anwendung des Zwanges
könnte natürlich auch hier dazu führen, daß bisher der evangelischen Kirche angehörende
Kinder an dem katholischen Religionsunterricht, und umgekehrt, theilnehmen müssen,
woraus sich die Unstatthaftigkeit des Zwanges ergiebt.
Bezüglich der Kinder der Dissidenten hat die Unterrichtsverwaltung lange ge-
schwankt. Ebenso die Judikatur des Kammergerichts. Gegenwärtig ist für die Ver-
waltungspraxis maßgebend das unten mitgetheilte Reskript vom 16. Januar 1892,
welches einen anderen, als den hier für richtig erachteten, Standpunkt einnimmt. Das
Kammergericht hat schließlich in einer gleichfalls unten mitgetheilten Entscheidung
vom 17. April 1893 die Ertheilung oder Verweigerung der Erlaubniß seitens der
Schulaufsichtsbehörde für maßgebend und die Gerichte für unzuständig zur Prüfung der
Frage erklärt, ob nach dem bestehenden Rechte die Fhulaussichnkegnde zur Verweigerung
der Erlaubniß aus den vorliegenden Gründen befugt ist. Wie sich diese vorbehaltslose
Omnipotenzerklärung der Verwaltung mit der bisher für unbestreitbar erachteten Auf-
gabe der Gerichte, auf ihrem Gebiete die Thätigkeit der Verwaltungsorgane an der Hand
des geltenden Rechts zu kontroliren und eventuell zu rektificiren, vereinigen läßt, ist aus
dem kammergerichtlichen Urtheil nicht ersichtlich. Uebrigens darf nicht übersehen werden,
daß sowohl das Reskript als auch das Urtheil sich nur auf die Schüler der Volksschule
bezichen. Nach der bisherigen Praxis der Unterrichtsverwaltung werden die Schüler der
mittleren und höheren Lehranstalten, deren Eltern Dissidenten, ja ganz konfessionslos
sind, auch dann nicht zur Theilnahme an dem Religionsunterricht der Schule genöthigt,
wenn sie einen anderweitigen Religionsunterricht nicht genießen (Ministerialerlasse vom
6. Januar, 13. Febrnar und 1. März 1893, Centralblatt für die gesammte Unterrichts-
verwaltung S. 233, 306, 355).
Allgemeine Verfügung vom 16. Januar 1892, betreffend den
Religionsunterricht der Kinder der sogenannten Dissidenten. (Central-
blatt für die gesammte Unterrichtsverwaltung S. 435.)
Berlin, den 16. Januar 1892.
Ew. Exzellenz erwidere ich auf den gefälligen Bericht vom 30. September
v. Is. — 3044 —, betreffend den Religionsunterricht der Kinder der sogenannten
Dissidenten, im Einverständnisse mit dem Herrn Justizminister und im Anschluß an
den Erlaß meines Amtsvorgängers vom 6. April 1859 (Centralblatt Nr. 65), daß
ich mit den rechtlichen Ausführungen unter Nr. I. und II. des Berichts überall ein-
verstanden bin.
Ich trete somit Ew. Exzellenz Ansicht bei, daß der Vater eines schulpflichtigen
Kindes selbst dann, wenn er für seine Person einer staatlich anerkannten Religions-
gesellschaft nicht angehört, gleichwohl verpflichtet ist, das Kind an dem Religions-
unterrichte in der öffentlichen Volksschule theilnehmen zu lassen, sofern er nicht den
Nachweis erbringt, daß für den religiösen Unterricht des Kindes anderweit nach
behördlichem Ermessen (vgl. die im Gebiet des Allgemeinen Landrechts hierbei maß-
ebende Vorschrift im Theil II. Titel 11 §. 13) in ausreichender Weise gesorgt ist.
Ein Gleiches gilt von solchen Kindern, welche sich nicht in väterlicher Erziehung
befinden, sondern dem Erziehungsrechte der Mütter oder eines Vormundes oder
Pflegers unterstehen. Sofern jedoch derjenige Elterntheil, dessen religiöses Bekenntniß
nach Maßgabe der hierüber in den einzelnen Landestheilen geltenden gesetzlichen
Vorschriften über die Konfessionalität des dem Kinde zu ertheilenden Religions-
unterrichts entscheidet, zu dem für diese Entscheidung maßgebenden Zeitpunkte einer
staatlich anerkannten Religionsgesellschaft angehört hat, darf auch der religiöse
Unterricht des Kindes, gleichviel ob derselbe in der öffentlichen Volksschule oder als
anderweiter Ersatz-Religionsunterricht stattfindet, nur in einer dem Bekenntnißstande
der betreffenden Religionsgesellschaft entsprechenden Weise erfolgen.
Der Erlaßunterrcht ist wie jeder Privatunterricht von der Schulaufsichts-
behörde zu beaufsichtigen.
Dieser Ansicht stehen die Bestimmungen des Artikels 12 der Preußischen
Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850 um so weniger entgegen, als dieser
Artikel nach seinem Schlußsatze die freie Religionsübung nur insoweit zuläßt, als
dadurch der Erfüllung der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten kein Ab-
bruch geschieht. Zu solchen Pflichten aber gehört, soweit die Erziehung schul-
pflichtiger Kinder in Frage kommt, nach Art. 21 Abs. 2 in Verbindung mit
Artikel 24 Absatz 1 und 2 der Verfassungsurkunde, desgleichen nach den in den ein-
zelnen Landestheilen geltenden Vorschriften des Familienrechts (ogl §8 76 Allgem.