96
I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 21.
austreten, und ist auch die Erklärung des Austritts durch gesetzliche Vertreter un-
mlässig. Schulpflichtige Kinder müssen also, ohne Rücksicht darauf, ob ihre Eltern
er Kirche angehören oder nicht, in einer Religion nach den Gesetzen des Staats
erzogen werden.
Dieser Satz gilt aber auch für den Fall, daß die Kinder erst geboren sind,
nachdem der Austritt der Eltern aus jeder Religionsgemeinschaft erfolgt war; auch
diese müssen den Religionsunterricht der öffentlichen Volksschule erhalten.
Allerdings erkennen die §§ 1 bis 4 Theil II. Tit. 11 des Allgemeinen Land-
rechts die „vollkommene Glaubens= und Gewissensfreiheit“ an, doch ist daraus nicht
zu folgern, daß schulpflichtige Kinder ohne jeden Religionsunterricht erzogen werden
dürfen. Der 11. Titel des II. Theils des Allgemeinen Landrechts handelt „von
den Rechten und Pflichten der Kirchen= und geistlichen Gesellschaften“. Den letztern
gegenüber ist die Glaubens= und Gewissensfreiheit verkündet. Nicht um einen
Glaubens= und Gewissenszwang handelt es sich hier, sondern um den Unterricht in
einer Religion.
Ebenso wenig kann Artikel 12 der Preußischen Verfassungsurkunde für die
gegentheilige Ansicht verwerthet werden. Dies Gesetz gewährleistet zwar „die Frei-
heit des religiösen Bekenntnisses, die Vereinigung zu Religionsgesellschaften und der
gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Religionsübung“", gedenkt aber der Frage
der Erziehung der Kinder in der Religion nicht. Bei schulpflichtigen Kindern kann
man von Willensfreiheit in religiösen Fragen nicht sprechen, auf diese kann sich
deßhalb diese Bestimmung über die Gewissensfreiheit überhaupt nicht beziehen. Der
Vater aber wird dadurch, daß sein Kind irgend einen Religionsunterricht erhält, in
seiner Gewissensfreiheit nicht beeinträchtigt.
Zwar bestimmt der § 78 Theil II. Tit. 2 des Allgemeinen Landrechts, daß,
solange Eltern über den ihren Kindern zu ertheilenden Religionsunterricht einig
sind, kein Dritter ein Recht hat, ihnen darin zu widersprechen; doch regelt diese Be-
stimmung zunächst nur die gegenseitigen Rechte der Eltern in Beziehung auf den
Religionsunterricht und beschränkt nicht die Rechte des Staats. Außerdem hat die-
selbe aber, wie alle bezüglichen Vorschriften des Landrechts, zur Voraussetzung, daß
irgend ein Religionsunterricht ertheilt werden soll, gestattet dagegen nicht die Er-
ziehung der Kinder ohne jeden Religionsunterricht.
Auch die Berufung auf das Urtheil des Kammergerichts wider Ewald, vom
6. Dezember 1888, S. 536/88 (Jahrbuch der Entscheidungen, Band 9 Seite 282
und 283) ist nicht zutreffend. In den Gründen ist zwar dem damaligen Revidenten
„zugegeben worden, daß nach dem im § 11 Theil II. Tit. 12 des Allgemeinen Land-
rechts ausgesprochenen Grundsatz Schüler zar Theilnahme an dem Religions-
unterricht in einer Konfession, welcher sie bezw. ihre Eltern nicht angehören, über-
haupt nicht angehalten werden dürfen“, doch ist dabei ausdrücklich ausgesprochen
worden, daß „der Besuch einer Volksschule die darin aufgenommenen Schüler der
Regel nach zur Theilnahme an allen lehrplanmäßigen Unterrichtsgegenständen, zu
welchen insbesondere auch der Religionsunterricht gehört, verpflichtet“. Demgemäß
ist in das Jahrbuch der Entscheidungen als Grundsatz der durch dies Urtheil ent-
schiedenen Frage mit Recht ausgenommen worden:
„Nur durch vorschriftsmäßige Entbindung eines die Volksschule besuchenden
Kindes von der Theilnahme an einem lehrplanmäßigen Unterrichtsgegenstand
kann der Vater des Kindes, welches diesen Theil der Unterrichtung versäumt,
von der Schulversäumniß befreit werden.“
Den gleichen Grundsatz hat auch das Kammergericht im Urtheil vom
29. April 1886, 8. 117/86 (Jahrbuch, Band 6 Seite 20 | ausgesprochen und auch
in der Praxis — zuletzt im Urtheil wider Späte vom 16. Januar 1893 (ungedruckt)
— festgehalten. Nur in dem Urtheil wider Hoffmann vom 6. Februar 1890,
8. 110/90 (Jahrbuch, Band 10 Seite 250) ist eine entgegengesetzte Ansicht ausgesprochen
worden, welche jedoch aus den angeführten Gründen für zutreffend nicht erachtet
wird. Das Gericht hält vielmehr den oben ausgesprochenen Grundsatz voll aufrecht.
In dieser Ansicht wird dasselbe auch nicht beirrt durch die Bezugnahme auf
das Gesetz vom 30. Juli 1869, betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen
in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung; denn es handelt sich vorliegend
um keine Beschränkung, welche aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses
hergeleitet wird, sondern allein darum, daß alle Eltern, mögen sie eine Religion