I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 22. 97
haben oder nicht, verpflichtet sind, ihren Kindern wenigstens den Religionsunterricht
zu gewähren, der in der öffentlichen Volksschule gelehrt wird.
Auf die verschiedenen, vom Revidenten citirten Erlasse der preußischen Kultus-
minister hier einzugehen und ihre Rechtsbeständigkeit und Zweckmäßigkeit zu prüfen,
liegt keine Veranlassung vor, da — wie bereits oben ausgeführt ist — das Gericht
sich lediglich mit der Frage zu beschäftigen hat, ob die in der Polizeiverordnun
des Oberpräsidenten vom 24. März 1881 vorgeschriebene Einholung einer Erlaubnig
zur Versäumniß der Schule auch für den Religionsunterricht von Dissidenten ge-
sordert werden kann.
Diese Frage ist unbedingt bejaht worden. Hieraus folgt die Zurückweisung
der Revision, und mußten die Kosten des erfolglosen Rechtsmittels nach § 505 der
Strafprozeßordnung dem Revidenten auferlegt werden.
Artikel 22.
Unterricht zu ertheilen und Unterrichtsanstalten zu gründen und
zu leiten, steht Jedem frei, wenn er seine sittliche, wissenschaftliche
und technische Befähigung den betreffenden Staatsbehörden nachgewie-
sen hat.
A. Die Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 (Reichs-Gesetzbl. 1883 S. 177) bestimmt in
§ 35 nur, daß die Ertheilung von Tanz--, Turn= und Schwimmunterricht denjenigen
untersagt werden darf, welche wegen Vergehen oder Verbrechen gegen die Sittlichkeit
bestraft sind, und findet nach § 6 im Uebrigen auf das Unterrichtswesen keine An-
wendung. Somit ist unbehindert die Landesgesetzgebung maßgebend. Da Art. 22 nach
Art. 112 bis zum Erlaß des in Art. 26 verheißenen Unterrichtsgesegzes suspendirt ist
— Anmerk. A. zu Art. 21 oben S. 83 —, so gilt das außerhalb der
bestehende Recht.
Für den Geltungsbereich des Allgemeinen Landrechts sind zunächst maßgebend
die §§ 3 bis 8 A. L. R. II. 12 (Von niedern und höhern Schulen). Die Kabinetsordre,
betreffend die Aufsicht des Staats über Privatanstalten und Privatpersonen, die sich mit
dem Unterrichte und der Erziehung der Jugend beschäftigen, vom 10. Juni 1834 (Ges.--
Samml. S. 135) bestimmt, daß ohne das Zeugniß der örtlichen Aufsichtsbehörde keine Schul-
und Erziehungsanstalt errichtet oder Jemand zur Ertheilung von Lehrstunden als einem
Gewerbe zugelassen werden darf, und zwar „sollen diese Zeugnisse sich nicht auf die Tüchtig-
keit zur Unterrichtsertheilung in Beziehung auf Kenntnisse beschränken, sondern sich auf Sitt-
lichkeit und Lauterkeit der Gesinnungen in religiöser und politischer Hinsicht erstrecken.“
Dabei wird den Ministern der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten und der Polizei
der Erlaß einer hiernach den Lokalbehörden zu ertheilenden, für den ganzen Umfang
der Monarchie in Anwendung zu bringenden Instruktion übertragen. Die auf Grund
dieser Ermächtigung ergangene Ministerialinstruktion vom 31. Dezember 1839 zur Aus-
führung der Kabinetsordre vom 10. Juni 1834 (Verwaltungs-Minist.-Bl. 1840 S. 94)
ist durch eine Reihe späterer Ministerialreskripte, insbesondere durch das Reskript, be-
treffend die Ergänzung der Instruktion vom 31. Dezember 1839, vom 12. April 1842
(a. a. O. S. 119) ergänzt bezw. erläutert und durch die Verfügung vom 18. Februar 1887
(Centralblatt für die gesammte Unterrichtsverwaltung S. 396) für anwendbar auch in
den neuen Provinzen erklärt worden. Sie bezieht sich jedoch lediglich auf den Privat-
unterricht für die Jugend, während die brtgeisung von Privatunterricht an Erwachsene
nicht von einer polizeilichen Erlaubniß abhängig gemacht, und der Betrieb dieses
Gewerbes nicht wegen mangelnder sittlicher Qualifikation untersagt werden darf (Reskript
der Minister der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten und des Innern vom
27. Februar 1862, Verwaltungs-Minist.-Bl. S. 114).
B. Für den Schutz der staatlichen Ordnung des Unterrichtswesens ist nicht die Polizei-
behörde zuständig, vielmehr ist die Fürsorge für die Erhaltung der Ordnung den Schul-
abtheilungen der Regierungen, in höherer Instanz dem Kultusminister übertragen. Die
Polizeibehörden können allerdings von der Schulaufsichtsbehörde zur Erzwingung der
Anordnungen und Ausführung der Androhungen derselben requirirt werden, sind aber,
einige besonders bestimmte Fälle, z. B. Schulversäumnisse, ausgenommen, zum selbst-
ständigen Einschreiten gegen Verletzungen der Ordnungen des Unterrichtswesens, z. B.
Schwaryp, Preußische Verfassungsurkunde. 7
erfassungsurkunde