160
I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 56. 57. 58.
ausnahmsweise seiner Entscheidung vorbehält. Wenn aber die Krankheit, die Reise län-
gere Zeit dauert, als ursprünglich angenommen wurde, so daß trotz der getroffenen
Maßregeln Stockungen in den Staatsgeschäften entstehen, so erhebt sich die Frage, ob
der König nunmehr einen Stellvertreter zu ernennen befugt ist, oder ob die verfassungs-
mäßige Regentschaft einzutreten hat. Die Regierungsstellvertretung, d. h. die Erledigung
eines, mehrerer oder aller dem Könige obliegenden Regierungsgeschäfte an Stelle und
im Namen des Königs und nach Maßgabe gegebener oder einzuholender Instruktionen,
ja sogar lediglich nach den dem Vertreter wohlbekannten Intentionen des Königs bei einer
voraussichtlich vorübergehenden Behinderung desselben ist in der Verfassungsurkunde nicht
ausdrücklich vorgesehen. Allein wenn die Verfassungsurkunde als Grund einer Regent-
schaft neben der Minderjährigkeit die „dauernde“ Verhinderung des Königs, selbst zu
regieren, ausdrücklich fordert, so weist sie dadurch darauf hin, wie es auch solche
Behinderungsfälle giebt, die eine Regentschaft nicht erforderlich machen, wie es demnach
als Recht und Pflicht des zu eigener Verrichtung eines unaufschiebbaren Regierungsaktes
zeitweilig nicht befähigten Königs erscheint, Sorge dafür zu tragen, daß eine Stockung
in den Geschäften nicht eintrete. Es ist eingewendet worden (G. Meyer Lehrbuch des
Deutschen Staatsrechts, 1878, § 93 S. 208), daß die dem Monarchen durch die Ver-
fassung zur persönlichen Ausübung übertragenen Rechte nur auf Grund einer verfassungs-
mäßigen Bestimmung auf einen Anderen übergehen dürfen, aber dieser Einwand trifft
nicht zu. Denn es handelt sich bei der Regierungsstellvertretung keineswegs um den
Uebergang von fürstlichen Regierungsrechten, etwa des Gesetzgebungsrechts an eine andere
Person, sondern lediglich um die Erfüllung eines fürstlichen, generellen oder speziellen
Auftrages, wobei der Monarch Inhaber der Regierungsgewalt bleibt und durch seine
Vollmacht der vertretungsweise gezeichneten Verfügung den Charakter einer Regenten-
handlung aufdrückt. In der That ist, wenn man nicht für jede kurze und vorübergehende
Behinderung des Königs zur Einsetzung einer Regentschaft, d. h. zur interimistischen
Einsetzung eines zweiten, ebenfalls unverletzlichen und unverantwortlichen Monarchen
schreiten will, das Institut der Regierungsstellvertretung gar nicht zu entbehren. Die Ge-
schichte des konstitutionellen Preußens kennt vier Fälle, nämlich aus den Jahren 1857/1858,
1878, 1887 und 1888. Der erste Fall, wobei unterm 23. Oktober 1857 der Thron-
folger, damalige Prinz von Preußen, auf drei Monate mit der „vollen Stellvertretung
des Königs in den Regierungsgeschäften“ betraut und der Auftrag dreimal — unterm
6. Januar, 9. April und 22. Juni 1858 — wiederholt wurde, gab zu gewichtigen Be-
denken deshalb Anlaß, weil ersichtlich von Vorn herein nicht eine vorübergehende
Behinderung des Monarchen, sondern eine Regierungsunfähigkeit desselben von ganz
unbestimmter Dauer vorlag, also nicht eine Siellvertretung zulässig, sondern eine
Regentschaft nothwendig war. In den drei anderen Fällen sind Bedenken nicht laut
geworden.
Hiermit stimmen v. Gerber a. a. O. S. 98799, v. Schulze Bd. 1 § 72 S. 218 ff.,
v. Stengel S. 46 und Arndt in Anm. 2 zu Art. 56 überein, ebenso v. Rönne in der
ersten Auflage seines Werkes Bd. 1 § 58. Dagegen hat Letzterer später seine Ansicht ge-
ändert, weil die Verfassungsurkunde gar keine Vorschriften über eine vorübergehende Stell-
vertretung des Königs ertheile, somit im Sinne der Verfassungsurkunde als dauernd und
daher die Einsetzung der Regentschaft erfordernd jede Verhinderung anzusehen sei, welche über-
haupt eine wirkliche Stellvertretung nothwendig mache, d. h. wobei das Staatsministerium
nicht ohne Stockung die Geschäfte suorsiwen) könne (v. Rönne Bd. 1 § 51 S. 186 ff.).
Diese Argumentation, für welche v. Rönne auch die G. Meyer'sche Begründung
heranzieht, erhält ihre Widerlegung durch das soeben Vorgetragene, und es kann ledig-
lich zugestanden werden, daß der Begriff „längere Dauer" sehr unbestimmt ist. Aber
v. Rönne selbst schwächt seinen Einwand erheblich ab. Denn abgesehen davon, daß er
gegen die in Veranlassung des Attentats von 1878 eingerichtete Stellvertretung nichts
zu erinnern findet, erklärt er, daß der König bei kürzeren Unterbrechungen seiner Re-
gierungsthätigkeit die Befugnisse seiner Minister erweitern, die Unterschriften an den
Thronfolger übertragen dürfe „oder dergleichen“, und daß überhaupt in jedem einzelnen
Falle „die freie Wahl des Mittels und namentlich der Umfang des den vorläufigen
Stellvertretern übertragenen Rechtes in jedem einzelnen Fall je nach den Verhältnissen
dem König überlassen bleiben“ müsse. Seine Argumentation richtet sich also im Grunde
darauf, daß die Stellvertretung kein Mittel werden darf, um eine verfassungsmäßig
nothwendige Regentschaft zu umgehen. Das darf sie allerdings nicht, aber es zu ver-
hindern sind der zur Regentschaft stehende Agnat, das Staatsministerium und der Land-
tag wie berufen, so jeder Zeit im Stande.