Full text: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.

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I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 56. 57. 58. 
ausnahmsweise seiner Entscheidung vorbehält. Wenn aber die Krankheit, die Reise län- 
gere Zeit dauert, als ursprünglich angenommen wurde, so daß trotz der getroffenen 
Maßregeln Stockungen in den Staatsgeschäften entstehen, so erhebt sich die Frage, ob 
der König nunmehr einen Stellvertreter zu ernennen befugt ist, oder ob die verfassungs- 
mäßige Regentschaft einzutreten hat. Die Regierungsstellvertretung, d. h. die Erledigung 
eines, mehrerer oder aller dem Könige obliegenden Regierungsgeschäfte an Stelle und 
im Namen des Königs und nach Maßgabe gegebener oder einzuholender Instruktionen, 
ja sogar lediglich nach den dem Vertreter wohlbekannten Intentionen des Königs bei einer 
voraussichtlich vorübergehenden Behinderung desselben ist in der Verfassungsurkunde nicht 
ausdrücklich vorgesehen. Allein wenn die Verfassungsurkunde als Grund einer Regent- 
schaft neben der Minderjährigkeit die „dauernde“ Verhinderung des Königs, selbst zu 
regieren, ausdrücklich fordert, so weist sie dadurch darauf hin, wie es auch solche 
Behinderungsfälle giebt, die eine Regentschaft nicht erforderlich machen, wie es demnach 
als Recht und Pflicht des zu eigener Verrichtung eines unaufschiebbaren Regierungsaktes 
zeitweilig nicht befähigten Königs erscheint, Sorge dafür zu tragen, daß eine Stockung 
in den Geschäften nicht eintrete. Es ist eingewendet worden (G. Meyer Lehrbuch des 
Deutschen Staatsrechts, 1878, § 93 S. 208), daß die dem Monarchen durch die Ver- 
fassung zur persönlichen Ausübung übertragenen Rechte nur auf Grund einer verfassungs- 
mäßigen Bestimmung auf einen Anderen übergehen dürfen, aber dieser Einwand trifft 
nicht zu. Denn es handelt sich bei der Regierungsstellvertretung keineswegs um den 
Uebergang von fürstlichen Regierungsrechten, etwa des Gesetzgebungsrechts an eine andere 
Person, sondern lediglich um die Erfüllung eines fürstlichen, generellen oder speziellen 
Auftrages, wobei der Monarch Inhaber der Regierungsgewalt bleibt und durch seine 
Vollmacht der vertretungsweise gezeichneten Verfügung den Charakter einer Regenten- 
handlung aufdrückt. In der That ist, wenn man nicht für jede kurze und vorübergehende 
Behinderung des Königs zur Einsetzung einer Regentschaft, d. h. zur interimistischen 
Einsetzung eines zweiten, ebenfalls unverletzlichen und unverantwortlichen Monarchen 
schreiten will, das Institut der Regierungsstellvertretung gar nicht zu entbehren. Die Ge- 
schichte des konstitutionellen Preußens kennt vier Fälle, nämlich aus den Jahren 1857/1858, 
1878, 1887 und 1888. Der erste Fall, wobei unterm 23. Oktober 1857 der Thron- 
folger, damalige Prinz von Preußen, auf drei Monate mit der „vollen Stellvertretung 
des Königs in den Regierungsgeschäften“ betraut und der Auftrag dreimal — unterm 
6. Januar, 9. April und 22. Juni 1858 — wiederholt wurde, gab zu gewichtigen Be- 
denken deshalb Anlaß, weil ersichtlich von Vorn herein nicht eine vorübergehende 
Behinderung des Monarchen, sondern eine Regierungsunfähigkeit desselben von ganz 
unbestimmter Dauer vorlag, also nicht eine Siellvertretung zulässig, sondern eine 
Regentschaft nothwendig war. In den drei anderen Fällen sind Bedenken nicht laut 
geworden. 
Hiermit stimmen v. Gerber a. a. O. S. 98799, v. Schulze Bd. 1 § 72 S. 218 ff., 
v. Stengel S. 46 und Arndt in Anm. 2 zu Art. 56 überein, ebenso v. Rönne in der 
ersten Auflage seines Werkes Bd. 1 § 58. Dagegen hat Letzterer später seine Ansicht ge- 
ändert, weil die Verfassungsurkunde gar keine Vorschriften über eine vorübergehende Stell- 
vertretung des Königs ertheile, somit im Sinne der Verfassungsurkunde als dauernd und 
daher die Einsetzung der Regentschaft erfordernd jede Verhinderung anzusehen sei, welche über- 
haupt eine wirkliche Stellvertretung nothwendig mache, d. h. wobei das Staatsministerium 
nicht ohne Stockung die Geschäfte suorsiwen) könne (v. Rönne Bd. 1 § 51 S. 186 ff.). 
Diese Argumentation, für welche v. Rönne auch die G. Meyer'sche Begründung 
heranzieht, erhält ihre Widerlegung durch das soeben Vorgetragene, und es kann ledig- 
lich zugestanden werden, daß der Begriff „längere Dauer" sehr unbestimmt ist. Aber 
v. Rönne selbst schwächt seinen Einwand erheblich ab. Denn abgesehen davon, daß er 
gegen die in Veranlassung des Attentats von 1878 eingerichtete Stellvertretung nichts 
zu erinnern findet, erklärt er, daß der König bei kürzeren Unterbrechungen seiner Re- 
gierungsthätigkeit die Befugnisse seiner Minister erweitern, die Unterschriften an den 
Thronfolger übertragen dürfe „oder dergleichen“, und daß überhaupt in jedem einzelnen 
Falle „die freie Wahl des Mittels und namentlich der Umfang des den vorläufigen 
Stellvertretern übertragenen Rechtes in jedem einzelnen Fall je nach den Verhältnissen 
dem König überlassen bleiben“ müsse. Seine Argumentation richtet sich also im Grunde 
darauf, daß die Stellvertretung kein Mittel werden darf, um eine verfassungsmäßig 
nothwendige Regentschaft zu umgehen. Das darf sie allerdings nicht, aber es zu ver- 
hindern sind der zur Regentschaft stehende Agnat, das Staatsministerium und der Land- 
tag wie berufen, so jeder Zeit im Stande.
	        
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