Full text: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.

192 I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 61. 
Anklagerecht der Volksvertretung wegen der von ihnen begangenen Verfassungsverletzungen. 
Durch dieses Anklagerecht soll die verfassungsmäßige Verantwortlichkeit der Ninesun für 
ihre eigenen und für die Regierungsakte des Königs thatsächlich realisirt werden. Siehe 
Art. 44 Anmerk. A., oben S. 125. 
Nach der Verfassungsurkunde sind folgende nähere Bestimmungen in Betracht 
zu ziehen: 
1. Die Anklage wird erhoben durch Beschluß einer Kammer, einerlei ob des Herren- 
hauses oder des Abgeordnetenhauses oder, was natürlich auch zulässig ist, durch 
einen übereinstimmenden Beschluß beider Kammern. 
2. Die Anklage ist zulässig wegen des Verbrechens der Verfassungsverletzung, der Be- 
stechung und des Verrathes. 
3. Nach § 132 des Gerichtsverfassungsgesetzes besteht bei jedem Gerichte eine Staats- 
anwaltschaft: Reichsanwalt, Oberstaatsanwalt, Staatsanwalt, Amtsanwalt, sodaß 
es an einem öffentlichen Organ für die Vertretung und Durchführung der Anklage 
vor und bei dem Gerichte nicht fehlt. In Ermangelung besonderer territorialer 
Vorschriften über das einzuhaltende prozessnalische Verfahren müssen die Vorschriften 
der Reichsstrafprozeßordnung zur Anwendung kommen. Dagegen fehlt es voll- 
ständig an einem Gericht, welches über die Anklage entscheidet. Der Schlußsatz des 
Abs. 1 des Art. 61 ist schon 1852 durch die Vereinigung des damaligen Ober- 
tribunals und des Rheinischen Revisions= und Kassationshofes zu einem ein- 
heitlichen Gerichtshofe unter dem Namen Obertribunal (siehe unten Art. 92) gegen- 
standslos geworden, dieser höchste Gerichtshof jedoch in Folge der Reichsilustiz- 
gesetzgebung aufgehoben. Seit dem l. Oktober 1879 giebt es in Preußen eine 
Anzahl — dreizehn — koordinirter höchster Territorialgerichte, nämlich Oberlandes- 
gerichte, aber keinen obersten Gerichtshof der ganzen Monarchie, denn das Kammer- 
gericht ist nur für die Strafsachen Preußischen Rechts und für die freiwillige Ge- 
richtsbarkeit gemeinsame höchste Instanz. Durch die Reichsgesetzgebung wird diese 
Lücke nicht ausgefüllt. 
4.A Nach Art. 49 kann der König zu Gunsten eines wegen seiner Amtshandlungen 
verurtheilten Ministers das Recht der Begnadigung und Strafmilderung nur auf 
Antrag derjenigen Kammer ausüben, von welcher die Anklage ausgegangen ist. 
5. Darüber, ob jeder Fall oder ob nur gewisse, näher formulirte Fälle der Ver- 
fassungsverletzung, des Verraths, der Bestechung strafbar sind, und mit welchen 
Strafen die Vergehungen geahndet werden sollen, verweist Art. 64 auf ein be- 
sonderes Gesetz. Dieses Gesetz ist aber bis jetzt nicht ergangen, und diese Lücke 
wird weder durch die Preußische Territorial- noch durch die Reichsgesetzgebung aus- 
gefüllt. 
Somit existiren weder ein Gerichtshof, welcher über die Anklage entscheidet, noch 
Bestimmungen über die den Ministern aufzulegenden Strafen. Bis der Gerichtshof 
eschaffen ist, Bestimmungen über die Strafen getroffen sind, kann die Volksvertretung 
bas Anklagerecht nicht ausüben. Die Folge davon ist, daß, soweit nicht die Reichs- 
gesetzgebung, insbesondere das Reichsstrafrecht eingreift, die Verfassung und die ver- 
fassungsmäßigen Rechte des unmittelbaren rechtlichen Schutzes entbehren. Die politische 
und die eivilrechtliche Verantwortlichkeit der Minister bieten diesen Schutz nicht. Denn 
die erstere beschränkt sich darauf, daß die Minister gehalten sind, bei den Verhandlungen 
im Landtage zu erscheinen, falls dies gefordert wird, und daß der Landtag berechtigt 
ist, von ihnen gewisse Auskünfte zu verlangen (Art. 60 Anmerk. E., oben S. 190). Was 
die civilrechtliche Verantwortlichkeit betrifft, so sind die Minister und speziell der Finanz= 
minister der Staatsregierung gegenüber dafür verantwortlich, daß die Staatsgelder 
gesetzmäßig verwandt werden. Dagegen kann der Landtag den Ministern zwar die De- 
charge verweigern, aber es fehlt an einem Gesetz, welches ihn legitimirt, die Minister 
bei den Landesgerichten wegen Ersatzes des ungesetzlich ausgegebenen Geldes an die Staats- 
kasse zu verklagen. 
Nach der Ansicht v. Rönne Bd. 2 8 157 S. 356 Anmerk. 1 und v. Schulze 
Bd. 2 §5 283 S. 693 wird das vorbehaltene Spezialgesetz auch das prozessualische Ver- 
fahren regeln müssen, weil man zur Ergänzung der mangelnden Bestimmungen nicht 
solche Gesetze heranziehen könne, welche auf das Kriminalverfahren von den gewöhnlichen 
Gerichten, nicht aber auf die Fälle der von dem regelmäßigen Kriminalverfahren durch- 
aus abweichenden Ministeranklage berechnet seien. Dieser Ansicht kann nicht beigetreten 
werden. Zwar wird das künftige Ministerverantwortlichkeitsgesetz gewiß auch Bestimmungen 
über das Verfahren enthalten; falls es dies aber nicht thut, wird, die Existenz der
	        
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