I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 62. 195
dies inhaltlich, materiell sind, es auch Gesetze giebt, welche dies nur formell sind. Allerdings
feducirt sich dieser durch die Form der konstitutionellen Gesetzgebung geschaffene Unter-
schied zwischen beiden Arten von Gesetzen eben darauf, daß wohl die einen, nicht aber
auch die anderen eine Rechtsnorm enthalten. Denn im Uebrigen stehen die Gesetze
im materiellen und die im formellen Sinne nach Entstehung, Veränderung, Aufhebung
und bindender Kraft einander gleich. Abgesehen von diesen in der Verfhfungsurkunde
oder in Spezialgesetzen bestimmt bezeichneten Einzelfällen formaler Gesetzesordnung be-
ruht das Zustimmungsrecht des Landtages auf Art. 62, greift also nur da Platz, wo
inhaltlich genommen eine Rechtsnorm, ein objektiver Bochtesag ceschaffen. abgeändert
oder ausgehoben werden soll. Unter denselben Gesichtspunkt fällt die authentische De-
klaration als zweifelhaft anerkannter Gesetzesbestimmungen. Enthält ferner ein Gesetz
irrthümlicher Weise Anordnungen, welche an sich genommen der Gesebesform nicht
unterliegen würden, so greift bei beabsichtigter Aenderung jener formale Gesichtspunkt
wiederum Platz, so daß jede Anordnung, welche einmal in Gesetzesform gebracht ist,
auch nur durch Gesetz, nicht aber durch Verordnung der Krone oder gar durch Mini-
sterialrefkript abgeändert oder aufgehoben werden kann.
Arndt, gestützt auf seine früheren Untersuchungen (das Verordnungsrecht 1884,
in Hirths Annalen 1886 S. 311 und im Archiv für öffentliches Recht Bd. 1 S. 512),
bestreitet in seiner Erörterung zu Art. 62, daß in Art. 62 die gesetzgebende Gewalt als
identisch mit der Gewalt, Rechtssätze anzuordnen, also im materiellen Sinne aufzufassen
sei. Er sagt nämlich (S. 120ff.):
Diese Auffassung stützt sich auf die geschichtliche Entwickelung besonders in
Preußen, nämlich auf die Behauptung, daß das Wort „Gesetz“ älter sei als die
Verfassung, mithin ehemals kein Zusammenhang mit den Rechten der Volksvertretung
hätte haben können und die Anordnung eines Rechtssatzes (im Gegensatze zum Ge-
wohnheitsrechte) ausgedrückt habe. Allein in Preußen hieß vor der Verfassung
nicht jede Anordnung eines Rechtssatzes Gesetz, sondern nur die vom Landesherrn
getroffene und in bestimmter Form verkündete Anordnung. Die überaus zahlreichen
Rechtssätze, welche von den Central-, Provinzial- und Lokalbehörden, von Staats-
organen oder Korporationen ausfgestellt sind, hießen „Verwaltungs= oder Kontrol-
vorschriften“ (Zoll-, Steuer= und Finanzsachen), „Regulative“ (hauptsächlich in
Schul= und Finanzsachen), „Instruktionen, Verordnungen" (in Polizeisachen), sogar
„Vepfügungen“. Alle diese, welche für die Unterthanen verpflichtend waren und sind,
und deren Nichtbefolgung häufig mit gerichtlichen Strafen bedroht war und ist,
werden stets als durchaus verschieden von den „Gesetzen“ aufgefaßt, mit denen sie
nicht im Widerspruch stehen sollen. Die Finanzminister der zum Zollverein ge-
hörigen Staaten haben auf den Zollvereinigungskonferenzen zahlreiche Rechtssätze
vereinbart und in ihren bez. Staaten durch die Verordnungsblätter zur allgemeinen
Nachachtung empfohlen. Niemand aber hat dieses Recht der Minister (welches jetzt
auf den Bundesrath übergegangen ist) vor wie nach 1850 als ein Gesetzgebungsrecht
aufgefaßt oder bezeichnet (s. Arudt, Verordnungsr. S. 27 ff., S. 36 ff., derselbe im
Arch. f. öff. Recht 1886 S. 534). Die Gesetze, z. B. die Verordnung wegen ver-
besserter Einrichtung der Provinzialbehörden vom 26. Dezember 1808 (Ges.-Samml.
1806/10 S. 464), die Reg.-Instr. vom 23. October 1817 (Ges.-Samml. 248),
das Gesetz über die Polizeiverwaltung v. 11. März 1850 (Ges.-Samml. 265) er-
kennen die Nichtidentität von „Gesetz“ und „Rechtsnorm“ durch die Vorschrift an,
daß die ausf Grund dieser Gesetze erlassenen Rechtsnormen nicht mit den „Gesetzen“
in Widerspruch stehen dürfen. Die Zollverträge z. B. vom Jahre 1833 behalten den
„Gesetzen“, dadiese in vielen Staaten der Genehmigung des Landtages bedurften, nur die
fundamentalen und prinzipalen, die minder wichtigen Rechtsnormen dagegen den
„Verwaltungsvorschriften“ vor, welche überall Rechtssätze aufstellen, deren Nicht-
befolgung finanzielle und strafrechtliche Wirkungen haben. Ebenso zweifellos ver-
steht das Wort Gesetz im Gesetz vom 3. April 1846 (Ges.-Samml. 151) nicht jede Rechts-
norm, die ein Minister, eine Regierung u. s. w. erlassen.
Der Abs. 1 in Art. 62 ist hiernach rein formell, d. h. dahin zu verstehen,
daß, wo ein Akt der gesetzgebenden Gewalt erforderlich ist, dieser Akt nicht mehr
allein vom Könige, sondern vom Könige nur noch in Gemeinschaft mit dem Land-
tage vorgenommen werden darf. Wo materiell ein Akt der Gesetzgebung erfordert
wird, bestimmt sich nach dem Inhalte der Verfassung (vgl. Art. 2, 3 u. s. w., 86,
99 a. a. O.). Soweit ein Gesetz nicht gefordert wird (dies ist nur noch auf ver-
einzelten Gebieten und in beschränktem Umfange der Fall), ist die Gewalt der
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