Full text: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.

202 I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 62. 
das Privilegium nur im Wege der Gesetzgebung oder zwar von der Regierung, aber 
nur dann ertheilt werden, wenn diese vorher durch ein ausdrücklich hierauf gerichtetes 
Gesetz die Ermächtigung dazu erworben hat. 
c) Das Dispensationsrecht ist die Befugniß der Staatsgewalt, die Anwendung eines 
Gesetzes für einen einzelnen bestimmten Fall auszuschließen. Die Dispensation 
bewirkt also die Nichtanwendung eines objektiven Rechtssatzes für einen konkreten 
Fall, während das Privilegium ein subiektives Recht für eine physische oder juristische 
Person durch einen Akt der Staatsgewalt unmittelbar begründet, und die Be- 
guadigung die strafrechtliche Folge einer unerlaubten und strafbaren Handlung auf- 
hebt oder mindert. Die Verfassungsurkunde schweigt über das Dispensationsrecht. 
Es ist nun klar, daß die Dispensation die theilweise Aufhebung eines Gesetzes ist, 
nämlich für einen bestimmten einzelnen Fall, wie es die Suspension ist für eine 
bestimmte oder unbestimmte Zeitdauer. Die Aufhebung von Gesetzen ist aber ein Akt der 
gesetzgebenden Gewalt, und da deren Ausübung an die Zustimmung des Landtages 
geknüpft ist, kann ohne solche Zustimmung der Monarch nur noch in denjenigen Fällen 
dispensiren, in welchen das Gesetz oder überhaupt das geltende Recht dies aus- 
drücklich zuläßt. Hiermit stimmt die staatsrechtliche Praxis überein, indem sie, von 
dem Satze ausgehend, daß die Vollziehungsgewalt nur die Ausführung der gesetz- 
lichen Normen, nicht aber deren Aufhebung bezwecke, durch gesetzliche Vorschriften 
sich unbedingt gebunden erachtet und einen Zweifel höchstens hinsichtlich der Natur 
einiger Normen aus der Zeit vor der Verfassung erhebt, nämlich ob diese als Ge- 
setze oder als Verordnungen zu betrachten seien. 
Die Befugniß zu gewissen eherechtlichen Dispensationen hat die Reichsgesetzgebung 
ertheilt. Nach s§ 40, 50 des Gesetzes über die Beurkundung des Personenstandes und die Ehe- 
schließung vom 6. Febr. 1875 (Reichs-Gesetzbl. S. 23) steht die Befugniß zur Dispensation 
von Ehehindernissen und von dem Aufgebot nur dem Staate zu, und haben über 
die Ansübung dieser Befugniß die Landesregierungen zu bestimmen. Die Ausübung 
der Befugniß ist in Preußen bezüglich der Ehehindernisse, der Ehemündigkeit und 
des Ehebruches dem Justizminister, der Wartezeit den Amtsgerichten, des Aufgebots 
dem Minister des Innern übertragen, bezüglich des letzteren in dringenden Fällen 
dem Vorsitzenden des Kreisausschusses bezw. Regierungspräsidenten. 
Wie auch in den angegebenen Fällen geschehen, kann der König die Aus- 
übung des ihm zustehenden Dispensationsrechtes auf die Minister oder anderec be- 
stimmte Behörden übertragen. 
C. Der Art. 55 des von der Verfassungskommission der Nationalversammlung aus- 
gearbeiteten Entwurfes einer Verfassungsurkunde (oben S. 24) lautete dahin, daß ein 
von beiden Kammern zum dritten Mal unverändert angenommener Gesetzvorschlag durch 
diese dritte Annahme ohne Weiteres Gesetzeskraft erhalten sollte. Diese Umkehrung des 
Prinzips der deutschrechtlichen monarchischen Staatsordnung ist von der Verfassungsurkunde 
nicht beibehalten. Nicht der König und der Landtag, noch viel weniger der Landtag mit 
der Beschränkung durch ein suspensives Veto des Königs, sondern der König allein ist 
Inhaber der Gesetzgebungsgewalt, er ist nur in der Ausübung dieser Gewalt an die 
Mitwirkung des Landtages gebunden, das Gesetz ist nicht mehr und nicht minder ein 
Königlicher Befehl als die Verordnung, mit dem alleinigen Unterschiede, daß es ergeht 
„mit Zustimmung der beiden Häuser des Landtages der Monarchie“. 
Somit ist zu jedem Gesetze die Uebereinstimmung des Königs und beider Kammern 
erforderlich, und die Zustimmung des Königs erübrigt nicht dadurch, daß der Landtag 
einen Gesetzvorschlag mehrere Male hintereinander angenommen hat. Man nennt dies 
das absolute Veto des Königs. Diese Bezeichnung ist sprachüblich, doch darf bei ihrem 
Gebrauche nicht vergessen werden, daß die Verfassungsurkunde sich ihrer nicht bedient, 
und daß von einem Veto eigentlich nur gegenüber dem Rechte eines anderen Subiekts 
zum Befehlen oder Gesetzgeben die Rede sein kann. In Gemäßheit des absoluten Cha- 
rakters dieses Veto ist der König in Betreff der Frage, ob er einem Gesetzentwurfe zu- 
stimmen oder nicht zustimmen, nach dem staatsrechtlichen Ausdruck: demselben seine 
Sanktion ertheilen oder sie versagen will, völlig frei, ist dies selbst in dem Fall, daß 
beide Kammern einen mit seiner Ermächtigung ihnen vorgelegten Gesetzentwurf unver- 
ändert angenommen haben. Die Sanktion geschieht durch die Datirung, Vollziehung 
und Siegelung des Entwurfes, die Ablehnung der Sanktion ist an keine Form gebunden, 
sie kann also auch stillschweigend, durch die Reponirung des Gesetzentwurfes, erfolgen. 
Ebensowenig ist einc bestimmte Zeit für die Ertheilung oder Versagung der Sanktion
	        
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