I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 62. 205
bringen, welche jene Bestimmung des Art. 64 bezwecke, nämlich die, daß alsdann der in Rede
stehende Entwurf in dieser Sitzungsperiode überhaupt gar nicht mehr, also auch nicht
für das andere Haus, Gegenstand der Berathung und Beschlußnahme sein dürfe.
Dieser Folgerung kann nun nicht beigestimmt werden. Aus #§ 64 Abs. 2 folgt eben
nur, daß, wenn die Vorlage in einem der beiden zugleich damit befaßten Häuser ihrem
anzen Inhalte nach verworfen worden ist, auch das andere Haus, sobald ihm die Ab-
ehnung bekannt geworden ist, seine Berathungen einstellen muß. Die Nothwendigkeit
dieser Einstellung erkennt v. Rönne selbst an (a. a. O. S. 360), will sie aber, obwohl
sie gegen seine Ansicht spricht, anscheinend zur Begründung seiner Ansicht verwenden.
Er muß auch zugestehen, daß es nach dem in Art. 64 Abs. 1 gewährten Rechte der
Initiative jeder Kammer unbenommen ist, aus eigenem Antriebe einen der anderen
Kammer vorgelegten Entwurf gleichzeitig in Berathung zu ziehen. Dies kommt schließ-
lich auf dasselbe hinaus, wie wenn die Krone den Entwurf gleichzeitig beiden Kammern
vorgelegt hätte. Denn werden in diesem oder in jenem Falle beide Entwürfe an-
genommen, so hat jede Kammer den von ihr berathenen Entwurf der anderen zu über-
senden, und wenn schließlich beide Entwürfe buchstäblich gleichlautend geworden, ist es
der Krone gleichwohl unbenommen, die Sanktion zu ertheilen oder zu versagen. Wird
aber der Entwurf von einer der Kammern, einerlei von welcher, abgelehnt, so hat auch
die andere Kammer ihre Berathung sofort einzustellen. Thatsächlich ist es mehrmals
vorgekommen, daß die Staatsregierung ihre Entwürfe beiden Häusern gleichzeitig vor-
gelegt hat. Dann haben die Plenarberathungen des einen Hauses erst nach stattgec-
habter Annahme im anderen Hause begonnen; mehrfach sind auch die Berathungen in
den Kommissionen beider Häuser nebeneinander hergegangen und die Beschlüsse der
Kommissionen sogar, zur Beförderung des Geschäftsganges, wechselseitig mitgetheilt wor-
den. Der Umstand, daß das Herrenhaus bisher aus Mangel an Arbeitsmaterial sich
fast in jeder Sitzungsperiode auf unbestimmte Zeit hat vertagen müssen, läßt es em-
pfehlenswerth erscheinen, mehr als bisher die Gesetzentwürfe zuerst dem Herrenhause
oder diesem gleichzeitig mit dem Abgeordnetenhause vorzulegen, in welchem letzteren
Falle die Mitglieder des Herrenhauses mit den Entwürfen sich früh vertraut machen
und die Kommissionen des Herrenhauses in lebendigem Wechselverkehr mit denen des
Abgeordnetenhauses den Stoff für die Plenarberathung vorbereiten können.
Die geschäftliche Behandlung der Gesetzesvorlagen in den beiden Kammern richtet sich
nach den Geschäftsordnungen für das Herrenhaus vom 15. Juni 1892 und für das
Haus der Abgeordneten vom 16. Mai 1876 (unten IV. 2 und V. 8). Dieselben sind
nicht stabil, sondern gelten, wie in der für das Herrenhaus § 82 ausgesprochen ist, nur
von Session zu Session dergestalt, daß Abänderungen zu jeder Zeit vorgenommen werden
können. Folgende allgemeine Sätze können jedoch für feststehend crachtet werden:
1. Jedes Haus muß sich über die Annahme oder Ablehnung eines ihm von der Krone
oder dem anderen Hause zugegangenen Gesetzentwurfes erklären. Der Uebergang
zur Tagesordnung ist nicht statthaft. Dies ist in § 77 der Geschäftsordnung für
das Herrenhaus bestimmt ausgesprochen. Die Geschäftsordnung für das Haus der
Abgeordneten verbietet zwar in § 52 Abs. 3 den Uebergang zur Tagesordnung
lediglich bezüglich der Anträge der Regierung, unterscheidet aber in § 73 nur die
unveränderte Annahme, die veränderte Annahme und die Ablehnung der von dem
Herrenhaus ausgegangenen Gesetzesvorlagen, wonach also ein einfacher Uebergang
zur Tagesordnung auch im Abgeordnetenhause unzulässig ist.
2. Die Staatsregierung hat nicht das Recht, von den Kammern die unbedingte An-
nahme oder Verwerfung des Gesetzentwurfes zu verlangen, sondern abgesehen von
dem Herrenhause bezüglich des Staatshaushaltsetats hat jedes Haus das Recht,
zu dem Entwurfe Abänderungen oder Zusätze zu beschließen, von deren Genehmigung
es seine Zustimmung abhängig macht. Auch können die Kammern einen Entwurf
theilweise annehmen und theilweise ablehnen. Wenn sie sich zu einem überein-
stimmenden Beschluß nicht vereinigen, so kann der Entwurf nicht zu einem Gesetz
erhoben werden, weil jeder Kammer das volle Recht der Einwilligung gebührt.
3. Das Theilnahmerecht der Kammern bezieht sich auf alle Bestandtheile des Gesetzes,
also nicht bloß auf den die Rechtsregel unmittelbar festsetzenden, dispositiven Theil
des Gesetzes, sondern auch auf die Ueberschrift, den Eingang mit seinen etwaigen
einleitenden Bemerkungen (verba enuntiativa) und die Schlußformel. Die übliche
Eingangsformel („Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen 2c., ver-
ordnen, unter Zustimmung der beiden Häuser des Landtages Unserer Monoarchie,
was folgt") bietet gewöhnlich keinen Stoff zur Debatte, bildet aber einen Theil des