Full text: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.

I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 63. 209 
das Gesetz (Art. 72), auf Grund eines Gesetzes (Art. 88, 103), ein mit vorheriger 
Zustimmung der Kammern erlassenes — zu erlassendes — Gesetz (Art. 94, 95). 
Alle diese Bestimmungen, wonach diese oder jene Materie gesetzlich geregelt werden 
soll, sind enthalten in der Verfassungsurkunde, sind ein Theil derselben, folglich läuft 
eine Nothverordnung, welche eine der unter sie begriffenen Materien regelt, der 
Verfassung zuwider. Während der Konufliktszeit hat die Staatsregierung behauptet, 
da die Verordnung mit Gesetzeskraft jedenfalls ein Ausfluß der gesetzgebenden Ge- 
walt, also selbst Gesetz sei, so könnten auch solche, speziell der Gesetzgebung über- 
wiesene Gegenstände durch derartige „außerordentliche oder provisorische Gesetze“ ge- 
regelt werden. Die Theoretiker sind getheilter Ansicht. v. Gerber (Grundzüge des 
Deutschen Staatsrechts, 3. Aufl. 1880, § 47 mit Aum. 3 auf S. 153) sagt Folgendes: 
Der Satz, daß der Monarch ein Gesetz nur erlassen könne, wenn er vorher die Zustim- 
mung der Stände hierzu erlangt hat, leidet aber eine Ausnahme in den Fällen 
der sog. Nothgesetzgebung. Wenn nämlich ein dringendes Interesse des Staats 
die sofortige Ertheilung eines Gesetzes fordert, aber die Stände augenblicklich 
nicht versammelt sind, auch ihre zeitige Zusammenberufung unthunlich erscheint, 
so hat der Monarch Kraft einer durch die Verfassung ertheilten Autorisation 
das Recht, provisorisch das Gesetz selbst, d. h. vorläufig ohne ständische Zu- 
stimmung zu erlassen, muß sich jedoch hierbei auf den jene Ermächtigung ent- 
haltenden Artikel des Grundgesetzes ausdrücklich berufen. Ein solches Gesetz 
kann alles dasjenige zum Inhalt haben, was überhaupt durch Gesetze bestimmt 
zu werden vermag, nur nicht eine Abänderung der Grundgesetze und der Ver- 
fassung Darin, daß die Verfassungsurkunde ausspricht, ein gewisser 
Gegenstand solle durch die Gesetzgebung regulirt werden, liegt sicherlich keine 
Exemtion von der Nothgesetzgebung. Denn jene Zusicherung will nur dahin 
verstanden sein, daß der fraglüche Gegenstand fortan nicht bloß der Entscheidung 
der Verwaltungsbehörden anheimgegeben sein, sondern durch festes Gesetz nor- 
mirt werden solle. 4 
Arndt in Anmerkung 3 zu Artikel 63, S. 126 stimmt hiermit völlig überein. Er 
sagt nämlich: 
Der Verfassung läuft eine Verordnung zuwider, wenn die Verfassung die Re- 
gelung einer Materie nicht durch bloße Verordnung, sondern selbst durch Noth- 
verordnung ganz besonders ausschließt und ganz bestimmt vorschreibt (Art. 63, 
94 Abs. 1, 95, 107), daß die Regelung nur „mit vorheriger Zustimmung der 
Kammern“, bezw. im Wege der „ordentlichen Gesetzgebung“ erfolgen solle. Wo 
die Verfassung schlechthin nur ein „Gesetz“ verlangt, ist die Nothverordnung 
statthaft; anderenfalls hätten alle Nothverordnungen verboten werden müssen, 
die „den Gesetzen“ zuwiderlaufen. Derselben Ansicht G. Meyer I. S. 469 
und Bornhak S. 511; anderer Ansicht v. Rönne I. S. 371 ff., H. Schulze 
§ 174, E. A. Chr. (v. Stockmar) in Aegidi's Zeitschr. f. Deutsches öffentl. 
Staatsr. I. S. 237 ff. Die Nothverordnung steht rechtlich dem (einfachen) 
Gesetze gleich, sie ist, wie sie 1849 wiederholt genannt wurde und wie der Zu- 
sammenhang mit Art. 62 und der Wortlaut ergiebt, ein Gesetz, ein „außer- 
ordentliches“, ein „vorläufiges“ Gesetz, folglich kann sie auch Gesetze (nur nicht 
die Verfassung) ändern und aufheben. 
Diese Argumentationen, welchen sich auch v. Stengel S. 174 anschließt, wollen also 
die zwar verwerfliche, aber nicht ungebräuchliche Bezeichnung der Verordnung mit 
Gesetzeskraft als Nothgesetz, provisorisches Gesetz zu einer technischen stempeln und 
daraus wiederum Folgerungen ziehen. Sie scheitern jedoch an dem Umstand, daß für den 
Begriff eines Gesetzes nicht ein Sprachgebrauch, sondern die Jurisprudenz und die 
Verfassungsurkunde, erstere für die materielle, letztere für die formelle Seite, maß- 
gebend sind, somit hier, wo es sich um die formelle Seite handelt, die Verfassungs- 
urkunde. Diese versteht unter Gesetz eine mit Zustimmung der Volksvertretung zu 
Stande gekommene Norm; um Arndt's Worte (oben S. 195) zu gebrauchen: 
sie bestimmt, daß, wo ein Akt der gesetzgebenden Gewalt erforderlich ist, dieser Akt 
nicht mehr allein vom Könige, sondern vom Könige nur noch in Gemeinschaft mit 
dem Landtage vorgenommen werden darf. Hiervon macht der Art. 63 die Aus- 
nahme, daß unter gewissen Bedingungen und Voraussetzungen die bloße Königliche 
Verordnung Gesetzeskraft haben soll, keineswegs aber ermächtigt er den König, ohne 
Zustimmung des Landtages Gesetze zu erlassen. Die Nothverordnung ist, solange 
sie nicht von den Kammern genehmigt ist, eine Verordnung, nicht aber ein Gesetz, 
  
Schwaryg, Preußische Versassungsurkunde. 14
	        
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