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I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 63.
ist auch in den einzelnen Fällen ihres Vorkommens in der Gesetzsammlung stets
Verordnung und niemals Gesetz betitelt worden.
Es ist zwar nicht vorgeschrieben, daß die Nothverordnung ausdrücklich auf Art. 63
Bezug nimmt, aber es ist gleichwohl bisher geschehen und auch nothwendig, um
erkennen zu lassen, daß kein unbewußtes Ueberschreiten der Grenze zwischen dem
Verordnungs- und dem Gesetzgebungsrecht, sondern ein bewußtes Vorgehen auf Grund
des Art. 63 stattfindet. Die Eingangsformel würde hiernach zu lauten haben:
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen 2c., verordnen auf den
Antrag Unseres Staatsministeriums, auf Grund des Art. 63 der Verfassungs-
urkunde vom 31. Januar 1850, was folgt.
Siehe z. B. die Verordnung, betreffend die Ereichung von Bankkomtoiren, Kom-
manditen und Agenturen im Elsaß und in Lothringen durch die Preußische Bank,
vom 10. Juni 1871 (Ges.-Samml. S. 229).
Die Nothverordnung ist den Kammern bei ihrem nächsten Zusammentritt zur Ge-
nehmigung sofort vorzulegen. Aus dieser gesetzlichen Bestimmung folgt zunächst,
daß die Vorlegung an eine der Kammern nicht genügt, sondern die Verordnung
jeder der beiden Kammern vorgelegt werden muß. Dies ist deshalb nothwendig,
weil jede Kammer selbstständig zu entscheiden hat, somit die sofort zu erhebende
Entscheidung über Genehmigung oder Nichtgenehmigung bezüglich der letzteren aller-
dings schon dann vorliegt, wenn nur eine der beiden Kammern Nein, bezüglich der
ersteren aber erst dann, wenn beide Kammern Ja gesagt haben. Wenn die Vor-
lage nicht erfolgt, so- kann jede der Kammern die Verordnung aus eigenem Antriebe
prüfen und ihre Entscheidung entweder zu einem dem Sphatsminmterium mitzu-
theilenden Beschlusse oder zu einer an die Krone zu richtenden Adresse formuliren.
Uebrigens ist es klar, daß schon die Verzögerung, geschweige die Verweigerung der
Vorlegung eine Verfassungsverletzung ist.
Die von den Kammern vorzunehmende Prüfung ist eine doppelte. Zunächst ist
nämlich zu prüfen, ob bei dem Erlaß der Nothverordnung die Bestimmungen des
Art. 63 beobachtet sind. Wird diese Frage verneint, so ist darüber Beschluß zu
fassen, ob nach Art. 61 die Ministeranklage zu erheben oder wegen Evidenz der
bona fides den Ministern gleichwohl Indemnität zu ertheilen sei. Wird jene Fragr
bejaht, so ist in den zweiten Theil der Prüfung einzutreten, ob nunmehr die Noth-
verordnung durch Ertheilung der Zustimmung in ein Gesetz zu verwandeln oder ob
die Genehmigung zu versagen sei. Bei dieser zweiten Prüfung sind die legislato-
rischen Erwägungen dieselben, wie bei jeder anderen Gesetzesvorlage.
Wird die Genehmigung ertheilt, so gilt die Nothverordnung als Gesetz, wie
wenn sie von Vorn herein unter Zustimmung des Landtages ergangen wäre. Es
ist nicht vorgeschrieben, daß die Ertheilung der Genehmigung von der Regierung
durch ein Publikandum — in der Gesetzsammlung oder im Staatsanzeiger — zur
allgemeinen Kenntniß gebracht werde, und solches ist auch bisher nicht geschehen.
Auf die Gesetzeskraft der Verordnung ist ein solches Publikandum natürlich nicht
von Einfluß. Es steht daher ausschließlich im Ermessen der Staatsregierung, ob
sie die verfassungsmäßige Legalität ihres Vorgehens in solcher Weise vor dem Volke
konstatiren. will, oder nicht. Die Preußischen Staatsbehörden sind gebunden durch
Art. 106 Abs. 2
Wird dage egen die Genehmigung versagt, so erhebt sich die wichtige Frage,
ob dadurch die Nothverordnung fofot von selbst außer Kraft tritt, oder ob nun-
mehr die Staatsregierung verpflichtet ist, sie sofort außer Kraft zu setzen, so daß
sie ihre Gesetzeskraft ent durch die, natürlich vorschriftsmäßig zu publizirende,
Außerkraftsetzung verliert. Die Verfassungsurkunde enthält hierüber keine ausdrück-
liche Bestimmung, und so ist es nicht zu verwundern, daß für jede der beiden Alter-
nativen sich gewichtige Autoritäten ausgesprochen haben. Für die erste Alternative
stimmen v. Rönne und v. Gerber. Eine oktroyirte Verordnung, sagt v. Rönne
(a. a. O. S. 376),
bildet eine Ausnahme von der Regel der nach Art. 62 nothwendigen Ueber-
einstimmung der drei Faktoren der Gesetzgebung. Sie präsumirt einstweilen
die Zustimmung der beiden anderen Faktoren und daher hat sie provisorische
Gesetzeskraft. Sie tritt in die Rategorie wirklicher Gesetze, sobald diese Zu-
stimmung erfolgt ist. Erweist sich indeß die gedachte Präsumtion als eine
unrichtige dadurch, daß einer der beiden Faktoren das Gegentheil der Ver-
muthung ausdrücklich ausspricht, indem er seine Genehmigung versagt, so fällt