I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 63. 211
mit der sich als irrig erweisenden Präsumtion auch die lediglich auf diese gegründete
provisorische Gesetzeskraft der Verordnung hinweg. Sie hat mit provisorischer
Gesetzeskraft gegolten, und also auch Rechte und Pflichten begründen können,
solange die Präsumtion des Einverständnisses der beiden anderen Faktoren be-
stand; allein sie verliert die Basis dieser Geltung und kann daher fortan keine
Rechte und Pflichten mehr begründen, sobald die Präsumtion des Ein-
verständnisses durch die Thatsache des Nichteinverständnisses widerlegt wird.
Von dem Augenblicke an, wo diese Thatsache durch den nicht genehmigenden
Beschluß eines Faktors der Gesetzgebung festgestellt ist, verliert daher die ok-
troyirte provisorische Verordnung ihre verbindliche Kraft; sie kann eine recht-
liche Wirkung nur für diejenigen Rechtsverhältnisse in Anspruch nehmen, welche
in der 7 ihrer provisorischen Herrschaft begründet worden sind. Für die
fernere Zeit hört ihre rechtliche Kraft vom Augenblicke der Nichtgenehmigung
an von Rechtswegen (ipso jure) auf, ohne da es zu diesem Aufhören noch
des Hinzutritts einer weiteren Handlung bedarf.
Diese Begründung wird von v. Gerber verworfen. Wenn der Landtag
seine Zustimmung verweigert, so heißt es bei üm a. a. O. S. 155 und Anmerk. 6:
so verliert das Nothgesetz seine Gesetzeskraft von selbst, ohne daß es einer be-
sonderen Aufhebung bsellen bedürfte. Denn indem das Gesetz ausdrücklich
auf den die provisorische Gesetzgebung bestimmenden Artikel gestützt worden ist,
hat es vom Gesetzgeber überhaupt nur eine mit Resolutivcharakter verbundene
Lebeuskraft erhalten. A. A. Zachariä, Deutsches Staatsrecht, § 160 Note 13.
Richt entscheidend .. . . . ist der politische Grund, daß sonst die Regierung
es in der Hand hätte, ganz willkürlich die Geltung ihrer Oktroyirungen zu
perpetuiren; ebensowenig der Grund v. Rönne's, daß ein Nothgesetz nur
elte, weil die künftige Zustimmung der Stäude gesetzlich vermuthet werde.
ohl aber ist entscheideud der Grund, daß der Gesetzgeber selbst den Resolutiv-
charakter gewollt hat, und nur diesen hat wollen können; es bedarf mithin
nicht mehr einer besonderen Aufhebung, wenn das resolvirende Ereigniß ein-
getreten ist. (Wünschenswerth ist es freilich immer, daß die Regierung, um
Ungewißheiten vorzubeugen, die aufhebende Thatsache öffentlich konstatirt.)
Das Recht der Nothgesetzgebung darf nicht so aufgefaßt werden, als ob es
eine Ausnahme von dem allgemeinen Satze der Nothwendigkeit ständischer
Verabschiedung der Gesetze enthielte; dieser Satz bleibt vielmehr ganz unberührt,
und die Ausnahme betrifft nur den Grundsatz der Nothwendigkeit des Voraus-
gehens der ständischen Zustimmung.
Diesen Ausführungen kann aber nicht füglich beigetreten werden. Denn ein Gesetz
oder eine Verordnung wird keineswegs dadurch von selbst aufgehoben, daß die
Voraussetzung oder die Bedingung ermangelt, unter welcher sie erlassen wurde.
Auch geht aus der Entstehungsgeschichte des Art. 63 keineswegs hervor, daß man
bei seiner Abfassung beabsichtigt habe, die Nothverordnungen von selbst außer
Kraft treten zu lassen. Vielmehr wurden alle dahin zielenden Veränderungs-
anträge in den Revisionskammern mit großer Majorität abgelehnt, so vor allem
der Antrag Kühne's: „Die Verordnungen treten außer Kraft, sofern sie nicht bis
zum Schlusse der nächsten auf ihren Erlaß folgenden Kammersitzung durch Zu-
stimmung der Kammern in definitive Gesetze verwandelt worden sind“, und ebenso
das Kommissionsamendement: „Bis dahin, wo die Versagung der Genehmigung
Seitens einer der Kammern ausgesprochen ist, bleiben die Verordnungen in Giltig-
keit". Der Justizminister Simons erkannte zwar an, daß die Nichtzustimmung
einer Kammer unbedingt die Beseitigung der Nothverordnung zur Folge habe,
warnte aber vor jenen Anträgen, weil es gefährlich sei, eine Verordnung durch
bloßen Zeitablauf außer Wirksamkeit treten zu lassen. Es muß daher bei dem
Ausspruche Zachariä's (a. a. O.) verbleiben: „die Ansicht, daß eine solche Ver-
ordnung, wenn die Vorlage nicht am nächsten Landtage erfolge, oder die Stände
erklären, daß sie (materiell) verfassungswidrig erlassen sei, ipso jure nichtig oder
rechtsungültig werde, läßt sich überall, wo es die Verfassung nicht ausdrücklich sagt,
nicht rechtfertigen“. Und die Preußische Verfassungsurkunde sagt es nicht, sagt es
weder ausdrücklich noch per concludens. H. Dernburg in seinem Lehrbuch des
Preußischen Privatrechts Bd. 1 § 16 S. 33, macht noch darauf aufmerksam, daß
einerseits Niemand von den Verhandlungen und Beschlüssen des Landtages Kenntniß
zu nehmen braucht, die Versagung der Genehmigung eines Hauses ein rein innerer
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