I. Versassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 65. 215
ist. Ist er angenommen, so ist er nach § 73 der Geschäftsordnung dem Herrenhause
mitzutheilen, und kommt er von dort wegen vorgenommener Aenderungen zurück, so
kommt er eben zurück nicht als der Gesetzesvorschlag des ersten Antragstellers, sondern
als Beschluß des anderen Hauses. Ist er aber abgelehnt, so gilt er nicht mehr als
cxistent, kann also aus diesem Grunde nicht mehr zurückgezogen werden. Ist die Ini-
tiative zu dem Gesetzesvorschlag von dem ganzen Hause ausgegangen — wie dies ohne
vorgängigen Vorschlag des Präsidenten oder einzelner Mitglieder möglich sein soll, kann
man sich allerdings schwer vorstellen! —, so ist die Zurücknahme nur möglich, so lange
der Vorschlag sich noch innerhalb des Machtbereiches des Hauses befindet, also so lange
er noch nicht dem anderen Hause mitgetheilt ist. Die Krone endlich kann den von ihr ausge-
gangenen Gesetzesvorschlag, falls er nicht durch Ablehnung erledigt wurde, jeder Zeit
urückziehen, also auch, nachdem er angenommen ist. Dies ist einmal zur praktischen
Frörterung gekommen. Das Abgeordnetenhaus hatte in seiner Sitzung vom 26. Februar
1892 einen von der Staatsregierung eingebrachten Gesetzentwurf angenommen, worauf
der Entwurf von dem Staatsministerium zurückgezogen wurde, weil er nur unter Ab-
änderungen angenommen war, welche die Regierung nicht für annehmbar erachtete. Die
Berechtigung zu dieser Zurückziehung eines bereits angenommenen Entwurfes wurde
hierauf in Zweifel gezogen und die Ansicht aufgestellt, daß der Staatsregierung zwar
die Zurückziehung freistehe, so lange ein von ihr vorgelegter Entwurf sich noch in der
Berathung befände, nicht aber, wenn er vom Abgeordnetenhause schon angenommen sei.
In dem letzteren Falle müsse er nach § 73 der Geschäftsordnung dem Herrenhause über-
wiesen werden, worauf dann in diesem Falle der Staatsregierung das Recht der Zurück-
ziehung jeder Zeit zustehe. Das Abgeordnetenhaus ist jedoch dieser Ansicht nicht beige-
treten, sondern hat angenommen, daß die Staatsregierung auch einen bereits angenom-
menen Gesetzentwurf zurückziehen könne, und daß dieser hierdurch erledigt sei, also eine
Ueberweisung an das Herrenhaus nicht mehr stattzufinden habe (Stenogr. Berichte
1871/1872 Bd. 2 S. 959 ff.). Dies ist jedenfalls richtig. Denn auf Grund des ihr nach
Art. 62 Abs. 3 zuständigen absoluten Veto (Anm. C. zu Art. 62, oben S. 202) steht es
völlig bei der Krone, ob sie einen von den beiden Häusern des Landtages angenommenen
und ihr wieder überreichten Gesetzesentwurf, mag er immerhin von ihr selbst ausgegangen
sein, sanktioniren und publiziren will oder nicht, mit anderen Worten, ob sie den Ent-
wurf zum Gesetz erheben oder fallen lassen will. Nun ist es wirklich unerfindlich, wes-
halb sie den Entwurf nicht auch soll fallen lassen, d. h. zurückziehen dürfen, ehe er gemäß
§ 78 bezw. § 73 der Geschäftsordnung für das Herrenhaus bezw. das Haus der Ab-
geordneten als von beiden Häusern angenommen ihr wieder zugegangen ist, da sie ja
zur Sanktionirung und Publizirung ohnehin rechtlich nicht genöthigt werden kann. Je
früher sie ihn zurückzieht, desto vortheilhafter stellt sich die Geschäftslage des Landtages;
die bureaumäßigen Bestimmungen der Geschäftsordnungen können in diesem Fall doch
anz gewiß nicht für ausschlaggebend erachtet werden. Selbstverständlich muß, wie zur
Einbringung so auch zur Zurückziehung, das Staatsministerium sich durch Vorlegung
einer Allerhöchsten Genehmigung legitimiren.
Artikel 65.
Die Erste Kammer besteht:
a) aus den grossjährigen Prinzen;
b) aus den Häuptern der ehemals unmittelbaren reichsständischen Häuser in Preussen
und aus den Häuptern derjenigen Familien, welchen durch Königliche Verordnung
das nach der Erstgeburt und Linealfolge zu vererbende Recht auf Sitz und
Stimme in der Ersten Kammer beigelegt wird. In dieser Verordnung werden zu-
gleich die Bedingungen festgesetzt, durch welche dieses Recht an einen bestimmten
Grundbesitz geknüpft ist. Das Recht kann durch Stellvertretung nicht ausgeübt
werden und ruht während der Minderjährigkeit oder während eines Dienstver-
hältnisses zu der Regierung eines nichtdeutschen Staates, ferner auch, so lange
der Berechtigte seinen Wohnsitz ausserhalb Preussens hat;
e) aus solchen Mitgliedern, welche der König auf Lebenszeit ernennt. Ihre Zahl
darf den zebhnten Theil der zu a und b genannten Mitglieder nicht übersteigen;
d) aus neunzig Mitgliedern, welche in Wahlbezirken, die das Gesetz feststellt,
durch die dreissigfache Zahl derjenigen Urwähler (Art. 70), welche die höchsten
direkten Staatsstenern bezahlen, ldurch direkte Wahl nach Massgabe des Gesetzes
gewählt werden;