I. BVerfassungsurkundt vom 31. Januar 1850. Art. 77. 227
Urkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedrucktem
Königlichen Insiegel.
Gegeben Neues Palais, den 26. November 1893.
(L. S. Wilhelm.
Gr. zu Eulenburg. v. Boetticher. v. Schelling.
Frhr. v. Berlepsch. Gr. v. Caprivi. Miguel. v. Heyden. Thielen.
Bosse. Bronsart v. Schellendorf.
Der Jersammlungsort ist, wie gleichfalls schon oben S. 146 bemerkt wurde, weder
durch die Verfassungsurkunde noch durch ein sonstiges Gesetz allgemein festgesetzt, die
Krone also in der Wahl des Ortes nicht beschränkt, doch wird der Landtag observanz-
mäßig nach Berlin einberufen. Besondere Einberufungsschreiben werden an die Mit-
glieder des Abgeordnetenhauses nicht gerichtet, dagegen werden die Mitglieder des Herren-
hauses einzeln durch Königliche Erlafst eingeladen.
Uebrigens wäre es korrekt, wenn in der Einberufungsverordnung nicht nur auf
Art. 51, sondern auch auf Art. 76 neuer Fassung Bezug genommen würde.
C. Ob und zu welchem Zeitpunkte der König den Landtag außerordentlicher Weise einbe-
rufen will, hängt gänzlich von seinem Ermessen der Umstände ab. Es ist nicht erfor-
derlich und auch nicht üblich, in der einberufenden Verordnung oder durch eine senstige
Königliche Kundgebung im Voraus die Angelegenheiten zu bezeichnen, zu deren Erledi-
gung die außerordentliche Einberufung erfolgt. Geschieht dies, etwa in der sog. Thron--
rede (Art. 77 Anm. C. a.), so können gleichwohl noch andere Angelegenheiten verhandelt
werden, denn die Rechte eines außerordentlicher Weise einberufenen Landtages sind die-
selben, wie die eines regelmäßig berufenen.
Arlikel 77.
Die Eröffnung und die Schließung der Kammern geschieht durch
den König in Person oder durch einen dazu von ihm beauftragten
Minister in einer Sitzung der vereinigten Kammern.
Beide Kammern werden gleichzeitig berufen, eröffnet, vertagt
und geschlossen.
Wird eine Kammer aufgelöst, so wird die andere gleichzeitig
vertagt.
A. Wie die Einberufung, so ist auch die Eröffnung, Vertagung, Schließung und Auflösung der
Kammern eine Prärogative des Königs. Die Eröffnung und Schließung soll in münddcher
Rede geschehen, durch den König in Person oder durch einen von ihm damit beauf-
tragten Minister, in einer gemeinschaftlichen Sitzung beider Kammern. Die Berufung,
Eröffnung, Vertagung und Schließung kann nur gleichzeitig bezüglich beider Kammern
geschehen. Da eine Auflösung des Herrenhauses nicht möglich, es aber nicht zulässig
ist, daß das Herrenhaus allein tagt, so wird im Fall der Auflösung des Abgeordneten-
hauses das Herrenhaus vertagt. Siehe die Ausführungen zu Art. 52, oben S. 148.
B. Die §§ 80 bezw. 74 der Geschäftsordnung für das Herrenhaus bezw. das Haus der
Abgeordneten erklären übereinstimmend, daß „Gesetzesvorlagen, Anträge und Petitionen
mit dem Ablaufe der Sitzungsperiode, in welcher sie eingebracht und noch nicht zur Be-
schlußnahme gediehen sind, für erledigt zu erachten“ seien. Die Vertagung des Land-
tages besteht nun, wie zu Art. 52, oben S. 148, bereits erörtert ist, darin, daß die
Thätigkeit des Landtages, ohne denselben zu schließen, auf bestimmte Zeit unterbrochen
wird, nach deren Ablauf der Landtag von selosl ohne daß eine neue Einberufung seitens
der Krone erforderlich ist, seine Geschäfte auf dem Punkt wieder aufnimmt, auf welchem
sie im Moment der Vertagung liegen geblieben waren. Wenn nun gemäß Absatz 3
dieses Art. 77 das Herrenhaus deshalb vertagt wird, weil das Abgeordnetkenhaus auf-
gelöst wird, so fragt sich, ob in Gemäßheit des § 80 der Geschäftsordnung das Prinzip
der Diskontinuität Platz greift, also in Wirklichkeit ein Sessionsschluß, oder ob nur eine
Vertagung in der oben angegebenen Bedeutung vorliegt. Dies ist gleich bei der ersten
seit Emanation der Verfassungsurkunde stattgehabten Auflösung des Abgeordnetenhauses
im Jahre 1862 streitig geworden. Das Herrenhaus hat sich dahin ausgesprochen, daß
auch in diesem Falle das Wort „Vertagung" ganz im gewöhnlichen Sinne genommen
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