230 I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 78.
welche auch für das andere Haus oder in den Verhältnissen des Hauses gegenüber der
Staatsregierung für die anderen Faktoren der Gesetzgebung verbindlich sein sollen.
Selbstverständlich sind die Bestimmungen der Verfassungsurkunde, z. B. die Art. 56, 60,
79, 80, auch gegenüber den Geschäftsordnungen zwingendes Recht, können durch diese
nicht abgeändert werden.
B. Jede Kammer hat die Legitimation ihrer Mitglieder zu prüfen und darüber zu ent-
scheiden, ohne hierbei an Direktiven Seitens der anderen Kammer oder der Staats-
regierung gebunden zu sein, obgleich nach Art. 60 die Minister, sowie die Regierungs-
kommissare jeder Zeit ihre Ansicht über die Legitimationsfrage äußern können.
Da für die Mitgliedschaft zum Herrenhause die Berufung durch den König der
Titel ist, so ist hier die Legitimationsprüfung rein formeller Natur. Das Nähere ist
bestimmt durch §8 69 der Geschäftsordnung. Die Prüfung der Legitimation erfolgt durch
die Matrikelkommission, welche aus dem Präsidenten des Hauses als Vorsitzenden, aus
den beiden Vicepräsidenten und aus vier zu wählenden Mitgliedern besteht. Ueber das
Ergebniß der Prüfung hat die Kommission dem Hause Bericht zu erstatten, demselben
auch in jeder Session eine Uebersicht über den Bestand des Hauses und die darin vor-
gekommenen Personalveränderungen vorzulegen. Jedes Mitglied ist berechtigt, seine
Zweifel über die Legitimation eines Mitgliedes oder über die Fortdauer der Erfordernisse
zur Ausübung des Rechts der Mitgliedschaft dieser Kommission schriftlich mitzutheilen,
welche demnächst zu berichten und die Entscheidungen des Hauses herbeizuführen hat.
Die vom Hause als legitimirt anerkannten Mitglieder werden in eine Matrikel ein-
getragen, die für ausgeschieden erklärten in derselben gelöscht. Die Eintragung, wie die
Cschung in der Matrikel wird von der Matrikelkommission nach Maßgabe der Be-
schlüsse des Hauses veranlaßt.
Die Legitimationsprüfung im Abgeordnetenhause, dessen Mitgliedschaft aus-
schließlich auf Wahl beruht, ist eine umfassendere. Sie hat sich nämlich darauf zu er-
strecken, ob der Gewählte die passive Wahlfähigkeit besitzt, ob bei der Wahl sämmtliche
formellen gesetzlichen und reglementarischen Wahlvorschriften beobachtet sind, und ob un-
befugte Wahlbeeinflussungen stattgefunden haben. Dabei sollen nach § 4 der Geschäfts-
ordnung Wahlanfechtungen und von Seiten eines Mitgliedes des Hauses erhobene Ein-
sprachen, welche später als vierzehn Tage nach Eröffnung des Hauses, bei Nachwahlen
aber, die während einer Session stattfinden, später als vierzehn Tage nach Feststellung
des Wahlergebnisses erfolgen, unberücksichtigt bleiben. Außerdem ist gelegentlich eines
konkreten Falles ganz allgemein der Grundsatz aufgestellt worden, daß, nachdem das
Haus seine Funktion in Bezug auf die Prüfung der Legitimation erfüllt habe, gewisser-
maßen res judicata vorhanden sei und die einmal für giltig erklärte Wahl nicht nach-
träglich für ungiltig erklärt werden könne (Stenogr. Berichte 1863/1864 Bd. 1 S. 446).
Dieser Grundsatz ist irrig. Der § 4 kann jeden Tag, kann von Fall zu Fall geändert
werden, und der aufgestellte Grundsatz beruht auf der Fiktion, daß die Wahlentscheidungen
des Hauses gewissermaßen inappellabele Endurtheile wären, während sie in Wirklichkeit
stets revokabele Verwaltungsakte sind. Wird nun eine Wahl bloß aus formellen
Gründen angefochten, so muß allerdings die Nothwendigkeit, mit den Wahlprüfungen
einmal zu einem Abschluß zu kommen, insoweit das Uebergewicht behalten, daß die nach
Ablauf einer gewissen Frist oder nach bereits ausgesprochener Giltigkeit der Wahl er-
folgenden Anfechtungen und Einsprachen unberücksichtigt bleiben. Noch viel mehr muß
dies geschehen, wenn die Anfechtung darauf gegründet wird, daß von Seiten der Be-
hörden eine unzulässige Beeinflussung der Wahlen stattzufinden habe, denn es giebt kein
Gesetz, welches den Behörden direkt verbietet, sich um die Wahl zu kümmern und einen
Einfluß kraft ihres Amtes auf sie auszuüben, während andererseits die Frage, ob ein
von ethischem Standpunkt aus unerlaubter Druck auf die freie Ueberzeugung der Wähler
ausgeübt worden sei, sich einer unzweifelhaften Beantwortung nicht selten entzieht.
Haben dagegen direkte Fälschungen des Wahlresultats oder strafbare Wahlbestechungen
stattgefunden, wodurch ein entscheidender Einfluß auf den Ausgang der Wahl ausgeübt
worden ist, so gebietet es die eigene Würde des Hauses, die Wahl jeder Zeit, auch wenn
sie bereits für giltig anerkannt sein sollte, zu kassiren. Dies kann in dem Fall gar
nicht bezweifelt werden, wenn sich nachträglich herausstellt, daß der Gewählte des pas-
siven Wahlrechts entbehrt, z. B. kein Preuße ist oder die bürgerlichen Ehrenrechte ver-
loren hat, denn eine solche Wahl ist unheilbar nichtig. Die Geschäftsordnung für das
Haus der Abgeordneten bedarf nach diesen verschiedenen Seiten hin eines sorgfältigeren
Ausbaues. Außerdem ist eine Einrichtung zu treffen, wonach die Wahlprüfungen so-
gleich zu Anfang jeder Legislaturperiode erledigt oder zum mindesten bis zu einer Vor-