Full text: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.

242 I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 83. 
deutscher Rechtsauffassung der Volksvertretung die ebenso schwierige als wichtige 
Pflicht obliegt, das verfassungsmäßige Recht des Landes, wie der Einzelnen, auch 
gegen die Eingriffe der Staatsregierung zu schützen, so müssen ihr auch ausreichende 
Mittel gewährt werden, in solchen Fällen den Thatbestand gewissenhaft, unabhängig 
und nach allen Seiten hin zu untersuchen. Eine solche Untersuchung wird vor allem 
da nöthig, wo es sich darum handelt, eine Beschwerde oder eine Anklage gegen das 
bestehende Ministerium vorzubereiten, d. h. das Material zusammenzubringen und 
u prüfen, aus welchem sich erst ergeben soll, ob der vorliegende Fall zu einem 
foichen Vorschreiten angethan ist. Gerade in einem solchen Fall ist das Ministerium 
selbst Partei, und es würde das ganze Untersuchungsverfahren leicht vereitelt werden 
können, wenn die Volksvertretung dabei lediglich vom guten Willen der Minister 
abhängig wäre. Darum hat die Verfassung der Volksvertretung in einem beson- 
deren Artikel auch das Mittel gegeben, um auch diese, nach obenhin oft mißliebige, 
aber unentbehrliche Seite ihres Berufes mit strenger Gewissenhaftigkeit erfüllen zu 
können. Dieses Mittel besteht in dem Rechte, eine Kommission zur Untersuchung 
von Thatsachen niederzusetzen, welche alle Befugnisse einer unabhängigen staatlichen 
Untersuchungsbehörde hat, so daß sie sich Urkunden vorlegen lassen, Zeugen ver- 
nehmen, Beweise jeder Art erheben kann, daß nicht bloß jeder Staatsbürger, son- 
dern auch alle Behörden und Beamten verpflichtet sind, ihren Requisitionen Folge 
u leisten, natürlich nur, soweit es sich dabei um die verlangte Auskunft über that- 
scchliche Verhältnisse handelt. 
Hierbei ist aber Folgendes in Betracht zu ziehen. Die Untersuchungskommission 
ist keine Justizbehörde, näher gesprochen: kein Gerichtshof, und sie soll nur Thatsachen 
untersuchen. Sie ist daher nicht befugt, Jemanden als „Angeschuldigten“ vorzuladen 
und „verantwortlich zu vernehmen“, vielmehr kann Jeder nur als Zeuge oder Sachver-- 
ständiger vorgeladen werden. Ebenso fehlt ihr die Zwangsgewalt und die Befugniß zur 
eidlichen Vernehmung. Wenn die Geladenen nicht erscheinen oder zwar erscheinen, aber 
die Aussage verweigern, oder wenn es sich um die eidliche Vernehmlassung handelt, muß 
die Kommission zu dem Ende das zuständige Gericht requiriren. Handelt es sich um die 
Vorlegung von Urkunden Seitens einer Privatperson, so kann dieselbe gleichfalls nur 
auf dem Wege der Requisition erzwungen werden. Die hierbei zu beobachtenden Formen 
des Verfahrens sind naturgemäß die allgemeinen strafprozessualischen. Bezüglich der 
Requisitionen Seitens der Kommission an die Justiz= und Verwaltungsbehörden ist 
der staatsrechtliche Grundsatz maßgebend, daß sich sämmtliche Behörden bei Erledigung 
der ihnen obliegenden Geschäfte innerhalb ihres Ressorts Unterstützung leisten sollen, 
wobei Differenzen im Aufsichtswege zum Austrage zu bringen sind, welcher Austrag 
allerdings nicht der sein darf, daß das Verlangen der Kommission um Ertheilung einer 
Auskunft über thatsächliche Verhältnisse abgelehnt wird. Aus dem der Volksvertretung 
obliegenden und von der Kommission, als einem Theil der Volksvertretung, zu wahren- 
den Beruf einer custodia lexum et jurium patriae folgt, daß das Ministerium das 
Verlangen der Kommission auf Vorlegung oder Auslieferung von Urkunden, welche sich 
in amtlicher Verwahrung befinden, nicht aus dem Grunde verbieten kann, weil das Be- 
kanntwerden des Inhalts der Urkunde dem Wohle des Reichs oder eines Bundesstaates 
Nachtheil bereiten würde (Strafprozeßordnung § 96). 
Artikel 83. 
Die Mitglieder beider Kammern sind Vertreter des ganzen 
Volkes. Sie stimmen nach ihrer freien Ueberzeugung und sind an 
Aufträge und Instruktionen nicht gebunden. 
Der erste Satz dieses Artikels ist maßgebend nicht bloß für die Mitglieder des 
Abgeordnetenhauses, sondern auch für die des Herrenhauses. Jedes Landtagsmitglied 
vertritt nicht die Mitglieder des eigenen Standes oder Berufes, sondern das ganze 
Volk, nicht den eigenen Wahlkreis, sondern die ganze Monarchie, wie umgekehrt die 
Wählerschaft des einzelnen Bezirkes für die ganze Volksgemeinschaft wählt. Nur auf 
diesem Wege ist es möglich, daß der Wille der Volksvertretung rechtlich als Volkswille 
gilt. Die Ansicht v. Rönne's (Bd. 1 § 33 S. 197 Anm. 2 0), daß die Mitglieder des 
Herrenhauses, weil nicht vom Volke gewählt, sondern vom Monarchen berufen, nicht 
Vertreter des ganzen Volkes seien, steht isolirt da.
	        
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