I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Att. 84. 243
Um dieses Grundprinzip jeglicher konstitutionellen Verfassung durchzuführen, ist
ein Doppeltes erforderlich, und diese beiden Erfordernisse werden in den Artikeln 83
und 84 gewährt.
In Art. 83 durch die zweite Vorschrift, daß die Landtagsmitglieder nicht an
Aufträge und Instruktionen gebunden sind, sondern nach ihrer freien Ueberzeugung zu
stimmen haben. Diese Vorschrift, das Verbot des imperativen Mandates, findet ihre
hauptsächliche oder, wie man wohl sagen kann, ausschließliche Anwendung auf die Mit-
glieder des Abgeordnetenhauses, da die Mitgliedschaft zum Herrenhause nicht auf Wahl,
sondern auf Königlicher Berufung beruht und es selbstverständlich ist, daß der König die
Landesvertreter nicht durch Aufträge und Instruktionen bindet, wogegen umgekehrt die
Wahlkandidaten zum Abgeordnetenhause nicht bloß regelmäßig auf ein bestimmtes Par-
teiprogramm, sondern nicht selten auf die ausgesprochene Erwartung hin gewählt werden,
daß sie in Bezug auf gewisse Angelegenheiten gemäß dem Wunsche ihrer Wähler stimmen
werden. Aber weil der Abgeordnete das ganze Volk vertritt, so ist er, und es ist dies
eigentlich nur ein anderer Ausdruck für jene Thatsache, von der speziellen Wählerschaft
seines Wahlbezirkes gelöst, ist er seinen Wählern nicht rechtlich verantwortlich, nicht an
ihre Instruktionen und Aufträge gebunden, geschweige, weil er ihre Erwartungen ge-
täuscht habe, rechtlich verpflichtet, sein Mandat niederzulegen. Vielmehr hat er so und
nicht anders zu stimmen, wie er in der parlamentarischen Debatte durch Anhörung der
verschiedenen Ansichten, der Gründe und Gegengründe, überzeugt worden ist, daß es das
Wohl des Vaterlandes erfordere. Dadurch wird natürlich nicht ausgeschlossen, daß er
die besonderen Wünsche und Beschwerden seines Wahlkreises oder einzelner seiner Wähler
zur Sprache bringt.
Das zweite Erforderniß, die Landtagsmitglieder in der Ausübung ihrer Befugnisse
gegen etwaige Angriffe der Staatsregierung zu schützen und ihnen eine rechtlich unge-
hinderte Ausübung ihres Berufes zu sichern, soll Art. 84 gewähren.
Artikel 84.
Sie können für ihre Abstimmungen in der Kammer niemals,
für ihre darin ausgesprochenen Meinungen nur innerhalb der Kam-
mer auf Grund der Geschäftsordnung (Art. 78) zur Rechenschaft ge-
zogen werden.
Kein Mitglied einer Kammer kann ohne deren Genehmigung
während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Hand-
lung zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer wenn
es bei Ausübung der That oder im Laufe des nächstfolgenden Tages
nach derselben ergriffen wird.
Gleiche Genehmigung ist bei einer Verhaftung wegen Schulden
nothwendig.
Jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied der Kammer und eine
jede Untersuchungs= oder Civilhaft wird für die Dauer der Sitzungs-
periode aufgehoben, wenn die betreffende Kammer es verlangt.
A. Art. 84, welcher, wie das pronominale Subjekt des ersten Absatzes zeigt, auch sprach-
lich eng mit Art. 83 zusammenhängt, soll die Landtagsmitglieder zunächst in der
Ausübung ihres Berufes gegen etwaige Angriffe der Staatsregierung schützen.
Hierauf geht Abs. 1. Der frühere höchste Gerichtshof Preußens, das zum 1. Okto-
ber 1879 aufgehobene Obertribunal, hat in einem für sein juristisches Ansehen wenig
förderlichen Beschluß vom 29. Januar 1866 den Rechtsgrundsatz aufgestellt, daß die
Immunität sich nur beziehe auf die ausgesprochenen Meinungen als Resultate
des Denkvermögens, nicht auch auf die Behauptung und Verbreitung von Thatsa-
chen. (Entscheidungen Bd. 55 S. 20, auch z. B. Just.-Minist.-Bl. S. 68.) Das
Abgeordnetenhaus hat am 10. Februar 1866 gegen diesen Beschluß protestirt und
jedes auf Grund desselben ergehende Verfahren und Verurtheilung für unglltig er-
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