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I. Verfassungsurkunde v. 31. Januar 1850. Art. 84.
klärt. Die Reichsgesetzgebung hat ein Festhalten an jener Ansicht unmöglich gemacht,
indem § 11 des Strafgesetzbuches bestimmt:
Kein Mitglied eines Landtags oder einer Kammer eines zum Reich gehö-
rigen Staats darf außerhalb der Versammlung, zu welcher das Mitglied
gehört, wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines Be-
rufes gethanen Aeußerung zur Verantwortung gezogen werden.
Somit kann allerdings durch Wiederholung des Inhalts seiner Kammerreden
außerhalb der Kammer ein Landtagsmitglied eine strafbare Handlung begehen, und
seine Kammerrede kann zu seiner Ueberführung bezüglich einer von ihm anderweitig
oder nicht durch Reden und Aeußerungen begangenen strafbaren Handlung benutzt
werden, aber beim Vorliegen der Voraussetzung des § 11 muß jedes Verfahren,
welches die Verantwortlichmachung bezweckt, unterbleiben, nicht bloß das strafrecht-
liche, sondern auch das disziplinarrechtliche und civilrechtliche. Die Aeußerung kann
auch nicht auf Grund der §§ 199, 233 des Strafgesetzbuches zur Aufrechnung gegen
eine Beleidigung oder Körperverletzung benutzt werden, denn dadurch würde sie recht-
lich als eine Beleidigung qualifizirt, also über sie ein gerichtliches Urtheil abgegeben
und sie unter das Strafgesetzbuch subsumirt, was nicht zulässig ist. Dagegen liegt
ein Ziehen zur Verantwortung nicht in der Berücksichtigung der Thatsache, daß ein
Landtagsmitglied eine beleidigende Aeußerung gethan hat, Behufs Anwendung des
§ 193 des Strafgesetzbuchs auf eine als Erwiderung dienende beleidigende Aeußerung
eines Anderen, und ebensowenig in der Nöthigung des Landtagsmitgliedes zur Ver-
nehmung als Zeugen in einer Strassache, welche auf Grund der von ihm im Land-
tage gethanen Aeußerung gegen einen Anderen eingeleitet ist. Unter Aeußerung ist
jedes Aussprechen von Worten, nicht bloß die Mittheilung von Resultaten des Denk-
vermögens zu verstehen. Der Begriff ist nicht auf mündliche Aeußerungen zu be-
schränken; auch schriftliche Aeußerungen, wie sie der Beruf eines Landtagsmitglieds
häufig fordert, fallen darunter, eventuell sogar eine nur pantomimische Kundgebung.
So kann z. B., falls die Unterlassung einer nicht durch das Gesetz, sondern nur durch
die Sitte oder die politische Parteistellung gebotenen Ehrenbezeugung überhaupt straf-
bar ist, der Thatbestand einer Majestätsbeleidigung nicht bloß darin gefunden wer-
den, daß ein Landtagsmitglied den König beschimpfende Worte ausspricht, sondern
auch schon darin, daß es bei dem am Beginn und am Schluß der Sitzungsperiode
üblichen Hoch auf den Monarchen sitzen bleibt oder nicht mitruft oder vorher hinaus-
geht oder erst nachher den Sitzungssaal betritt. In jedem dieser Fälle liegt eine
„Aeußerung“ im Sinne des § 11 cit. vor, gethan in Folge einer Aufforderung des
Präsidenten, also in der Eigenschaft eines Mitgliedes des Landtages. Eine Abstim-
mung kann natürlich nur in der Kammer selbst, sei es im Plenum oder in einer
Abtheilung oder Kommission geschehen. Dagegen kann die -eußerung geihan wer-
den auch außerhalb des Plenums, außerhalb einer Abtheilung oder einer Kommission,
z. B. von dem Sprecher einer von dem Hause abgeordneten Deputation, von einem
Etatskommissar gegenüber dem Vertreter der Staatsregierung, von dem Mitgliede
einer nach Art. 82 errichteten Untersuchungskommission bei einer ihm als Einzelnem
Überwiesenen Untersuchungshandlung u. a. Endlich kann die Aeußerung überhaupt
jeglicher lokalen Begrenzung entbehren, wenn sie nämlich eine schriftliche ist und das
sie enthaltende Schriftstück gar nicht zum mündlichen Vortrage erwächst. Entschei-
dend ist nicht das Lokal, sondern lediglich der Umstand, ob die Aeußerung in Aus-
übung des Berufes der Mitgliedschaft oder nicht in Ausübung, wenn auch gelegent-
lich derselben erfolgt ist.
Soweit die Unverantwortlichkeit reicht, können die Landtagsmitglieder nur
innerhalb der Kammer, also auf Grund der Geschäftsordnung, zur Rechenschaft ge-
zogen werden. Das Abgeordnetenhaus (Geschäftsordnung § 48) hat als Diszipli-
narmittel nur den Ordnungsruf und die Entziehung des Wortes, was selbstverständ-
lich ganz ungenügend ist. Das Herrenhaus hat nicht nur ebenfalls jene Diszipli-
narmittel zur Hand (Geschäftsordnung § 45), sondern ist durch die §§ 9, 10 der
Verordnung vom 12. Oktober 1854 (unten sub IV. 1) befugt, mit Königlicher Ge-
nehmigung ein Mitglied „wegen eines der Würde der Kammer nicht entsprechenden
Verhaltens“ oder „aus sonstigen wichtigen Gründen“ für immer oder zeitweise aus-
zuschließen.
Abs. 2 bis 4 sollen den Mitgliedern des Landtags die rechtlich ungehinderte Aus-
übung ihres Berufes sichern. Sie werden hierin unterstützt durch folgende Bestim-
mungen des Strafgesetzbuches: