I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 86. 273
Zuständigkeit von Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichten begründet ist
oder reichsgesetzich besondere Gerichte bestellt oder angelaßen sind.
Das Reichsgesetz bestimmt also die Kompetenz der Gerichte nur negativ. Diese Selbst-
beschränkung wird in den Motiven zum Entwurfe des Gerichtsverfassun Sgesetes in
folgender Weise begründet (zu §§ 2 und 3, Kortkampf'scher Abdruck, 2. Au#. S. 25):
Eine Reihe von bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten. deren Verhandlung und Ent-
scheidung nach allgemeinen Grundsätzen vor die ordentlichen Gerichte gehören würde,
ist denselben entzogen und den Verwaltungsbehörden zugewiesen, theils in der
Weise, daß die Veswaltungsbehörden ausschließlich euständig sind, heile so, daß
die Verwaltungsbehörden unter Vorbehalt des Rechtsweges entscheiden. — — —
— — Die Frage, welche Sachen den Verwaltungsbehörden und Verwaltungsge-
richten zuzuweisen sind, steht mit dem materiellen Rechte und dem inneren Staats-
rechte der einzelnen Länder in unlösbarer Verbindun * ist in den verschiedenen Staaten
verschieden beantwortet, und es mußte in dem Gerichteverfassungegeseie, welches in den
inneren Staatsorganismus der einzelnen Bundesstaaten und in das materielle Recht nicht
eingreifen darf, von einer gemeinsamen Regelung dieser Frage Abstand genommen
werden. Der Entwurf beschränkt sich daher auch auf die Bestimmung, daß die-
jenigen bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und Strafsachen, für welche (reichs- und
landesgesetzlich) die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden einschließlich der Ver-
waltungsgerichte begründet ist, vor die ordentlichen Gerichte nicht gehören. Danach
werden die bestehenden Grenzen zwischen Justiz und Verwaltung aufrecht erhalten.
C. Durch das Gesetz über das Verfahren bei Kompetenzkonflikten zwischen den Gerichten
und Verwaltungsbehörden vom 8. April 1847 (Ges.-Samml. S. 170) wurde die Ent-
scheidung der Kompetenzkonflikte einer besonderen Behörde übertragen, welche unter
dem Titel „Gerichtshof zur Entscheidung der Kompetenzkonflikte“ aus dem Pröäsidenten
des Staatsraths, dem Ttaatesekretür und neun auderen Mitgliedern des Staatsraths,
nämlich fünf Justiz= und vier Verwaltungsbeamten, zusammengesetzt war. Wenn nun
Art. 96 in seinem zweiten Satz „einen durch das Gesetz bezeichneten Gerichtshof“ ver-
langt, so ist schon sprachlich unwahrscheinlich, daß hiermit der durch das Gesetz vom
8. April 1847 eingeführte Gerichtshof gemeint sei. Daß er in der That nicht gemeint ist,
wird dadurch zweifellos, daß die von der Verfassungsurkunde aufgestellten Requisite eines
Gerichtshofes: Besetzung mit unabhängigen, vom Könige auf i ir Lebenszeit ernannten,
gualisizirten Mitgliedern und ein öffentliches, mündliches Verfahren, durch das Gesetz
vom 8. April 1817 nicht gewährt werden. Der Gerichtshof des Gesetzes vom 8. April
1817 blieb jedoch gemäß Art. 110 der Verfassungsurkunde so lange in Bestand und
Thätigkeit, bis der in Art. 96 in Aussicht genommene Gerichtshof eingerichtet wurde.
Dies aus eigener Kraft auszuführen, scheint der Preußische Gesetzgeber nicht im Staude
gewesen zu sein, und erst die Reichsgesetzgebung hat dem Verlangen der Verfassungs-
urkunde Rechnung getragen.
Die hierher gehörigen reichsgesetzlichen Bestimmungen sind folgende:
Gerichtsverfassungsgesetz.
§ 17.
Die Gerichte entscheiden über die Zulässigkeit des Rechtsweges.
Die Landesgesetzgebung kann jedoch die Entscheidung von Streitigkeiten
zwischen den Gerichten und den Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichten
über die Zulässigkeit des Rechtsweges besonderen Behörden nach Maßgabe der
folgenden Bestimmungen übertragen:
1. Die Mitglieder werden für die Dauer des zur Zeit ihrer Ernennung von ihnen
bekleideten Amts oder, falls sie zu dieser Zeit ein Amt nicht bekleiden, auf
Lebenszeit ernannt. Eine Enthebung vom Amte kann nur unter denselben
Voraussetzungen wie bei den Mitgliedern des Reichsgerichts stattfinden.
2. Mindestens die Hälfte der Mitglieder muß dem Reichsgerichte oder dem
obersten Landesgerichte oder einem Oberlandesgerichte angehören. Bei Ent-
scheidungen dürfen Mitglieder nur in der gesetzlich bestimmten Anzahl mit-
wirken. Diese Anzahl muß eine ungerade sein und mindestens fünf betragen.
3. Das Verfahren ist gesetzlich zu regeln. Die Entscheidung erfolgt in öffentlicher
Sitzung nach Ladung der Parteien.
4. Sofern die Zulässigkeit des Rechtsweges durch rechtskräftiges Urtheil des Ge-
richts feststeht, ohne daß zuvor auf die Entscheidung der besonderen Behörde
angetragen war, bleibt die Entscheidung des Gerichts maßgebend.
Schwar), Preußische Versassungsurkunde. 18