Full text: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.

300 I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 99. 
E. Die Verfassungsurkunde enthält keine besonderen Bestimmungen darüber, welche Rechts- 
grundsätze bei der Veranschlagung und Etatisirung der Einnahmen und Ausgaben des 
Staates maßgebend sein sollen. Veranschlagung und Etatisirung haben also gemäß dem 
bestehenden Rechte, d. h. der Verfassungsurkunde und den Spezialgesetzen, zu erfolgen, 
unter Respektirung sowohl der durch Gesetz oder Vertrag begründeten finanziellen Ver- 
pflichtungen, als auch der sonst wohlerworbenen Rechte. Insoweit also gültige Ge- 
setze bestehen, durch welche Einnahmen oder Ausgaben des Staates unmittelbar oder 
mittelbar bestimmt werden, sind die Staatsregierung und der Landtag auch bei Fest- 
stellung des Staatshaushaltsetats an diese Gesetze gebunden, stehen sie hierbei so lange 
unter diesen Gesetzen, bis dieselben in verfassungsmäßiger Weise aufgehoben sind. Wie 
der Landtag nicht berechtigt ist, das gesetzlich bestehende Recht und gesetzlich bestehende 
Einrichtungen direkt durch einseitige Beschlüsse abzuändern oder aufzuheben, ebensowenig 
darf er dies indirekt thun, sei es durch Nichtaufnahme gesetzlich feststehender Einnahme- 
posten in den Etat, sei es durch Streichung oder Herabminderung der zur Ausführung 
der Gesetze erforderlichen Ausgaben. Wollte das Abgeordnetenhaus in dieser Weise 
vorgehen, so ist gleichwohl, von der Staatsregierung ganz abgesehen, das Herrenhaus 
nicht verpflichtet, einen Etat lediglich im Ganzen anzunehmen oder abzulehnen, durch 
welchen in solcher Weise das bestehende Recht abgeändert wird, sondern kann verlangen, 
daß ihm die Abänderungen in besonderer Vorlage zugehen. Alle Einnahmen und Aus- 
gaben, welche auf bestehenden Gesetzen beruhen oder sich aus rechtlich feststehenden 
Verpflichtungen des Staates ergeben, entziehen sich daher der willkürlichen Beschlußnahme 
insoweit, dah der Landtag auf die Prüfung und Beschlußfassung beschränkt ist, ob der 
Staat wirklich verpflichtet ist, und ob bei den zwar der Existenz, nicht aber der Summe 
nach feststehenden Ausgabeposten im Interesse der Sparsamkeit Abstriche möglich sind. 
Ein völlig freies Bewilligungs= und Verweigerungsrecht steht also dem Landtage nur in 
Betreff solcher Ausgaben zu, welche nicht auf gesetzlichen Grundlagen und dauernden 
Einrichtungen beruhen und nur zu nützlichen Zwecken bestimmt sind, und in Betreff 
solcher Einnahmen, welche nur aus auf Jahresfrist bewilligten Steuern fließen. Dies 
sind die Grundsätze, nach welchen der Landtag verfahren soll und stets verfahren hat. 
Der Etat hat eine staatswirthschaftliche und eine staatsrechtliche Bedeutung. In 
staatswirthschaftlicher Beziehung soll er eine Uebersicht der Einnahmen und Ausgaben 
gewähren, damit im voraus das Gleichgewicht zwischen beiden festgestellt werden kann. 
Diese seine wirthschaftliche Beziehung tritt für die äußere Betrachtung entschieden in den 
Vordergrund. Ein Theil seines Inhalts erscheint gar nicht als die Aufstellung von 
Rechtssätzen, sondern als eine bloße Konstatirung, daß die Volksvertretung die von der 
Regierung gemachten Ansätze als richtig anerkannt habe. Ein weiterer großer Theil 
will keine absolute, sondern nur eine relativ wirkende Norm geben: die Regierung soll, 
wenn sich die bei der Feststellung der Einnahmen und Ausgaben angenommenen Vor- 
aussetzungen als irrig erweisen, dadurch nicht gehindert sein, die größere Einnahme zu 
erheben, die größere Ausgabe, welche sich in Folge veränderter thatsächlicher Verhaltnisse 
als nothwendig herausstellt, in der begründeten Hoffnung der späteren Genehmigung 
zu machen, und andererseits nicht berechtigt sein, eine durch die Umstände ermöglichte 
Ersparniß deshalb zu unterlassen, weil der Etat einen höheren Ansatz in Aussicht ge- 
nommen hatte. Diese Verhältnisse, in Verbindung mit der obigen Beschränkung des 
Prüfungs= und Beschlußfassungsrechtes des Landtages, dienen als Belege zu der Be- 
hauptung, daß der Etat nur ein Gesetz im formellen, nicht im materiellen Sinne, nur 
ein Verwaltungsakt in Gesetzesform sei. Wie nämlich bereits oben S. 191 — in Anm. B. 
zu Art. 62 — bemerkt wurde, ist die Gesetzesform — die Uebereinstimmung des Königs 
und des Landtages — zu gewissen Regierungsakten erforderlich, welche inhaltlich keine 
objektive Rechtsnorm sind. Hieraus hat Laband unter Zustimmung der Majorität 
der gegenwärtigen Staatsrechtslehrer — siehe Laband Das Staatsrecht des Deutschen 
Reichs, 2. Aufl. Bd. I. 8 56, II. §§ 127 bis 129 und S. 1037ff. — die Unterscheidung 
zwischen Gesetzen im materiellen und formellen Sinne entwickelt. Der Verfassungs- 
urkunde und überhaupt der ganzen Preußischen Gesetzgebung ist diese Unterscheidung 
fremd, beide Arten von Gesetzen sind nach Entstehung, Veränderung, Aufhebung und 
bindender Kraft während des Bestehens sich völlig gleich, die Unterscheidung ist somit 
nur eine theoretische und ohne positive Grundlage. Gleichwohl wird sie benutzt, um dem 
Budget, welches als der hauptsächliche Typus der formellen Gesetze bezeichnet wird, ent- 
weder im krassen Widerspruch mit dem Wortlant der Verfassungsurkunde den Charakter 
des Gesetzes abzusprechen oder dasselbe trotz der Anerkennung seines gesetzli en Charakters 
als ein bloßes Scheingesetz seiner realen Bedeutung zu entkleiden. Die Hauptschrift ist
	        
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