I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 104. 323
zu bewilligen, nicht aber die einzelnen Einnahmen selbst. Kann die Regierung diese
einzelnen Einnahmen unerhoben laffen ? Selbstverständlich darf sie es, sofern das Gesetz
ihr die Befugniß dazu ertheilt. So können z. B. die Gerichte nach § 6 des Gerichts-
kostengesetzes vom 18. Juni 1878 (Reichs-Gesetzbl. S. 141) und §8§ 1, 4 des Ausführungs-
gesetzes zum Deutschen Gerichtskostengesetze und zu den Deutschen Gebührenordnungen
für Gerichtsvollzieher und für Zeugen und Sachverständige vom 10. März 1879 (Ges.=
Samml. S. 145) Gebühren, welche durch eine unrichtige Behandlung der Sache ohne
Schuld der Betheiligten entstanden sind, niederschlagen und für abweisende Bescheide,
wenn der Antrag auf nicht anzurechnender Unkenntniß der Verhältnisse oder auf Un-
wissenheit beruht, Gebührenfreiheit gewähren. Nach § 3 des Gesetzes, betreffend Ab-
änderung mehrerer Bestimmungen der Gesetzgebung über die Stempelsteuer, vom 19. Mai
1889 (Ges.-Samml. S. 115) darf die ausstellende Behörde den Stempel für Leichenpässe
ermäßigen oder ganz erlassen. Aber steht ein solches Erlaßrecht auch zu ohne aus-
drückliche gesetzliche Ermächtigung?
Die Einnahmen beruhen theils auf privatrechtlichen, theils auf staatsrechtlichen
Gründen. Die privatrechtlichen sind theils dinglicher Natur, theils obligatorischer (Kauf-
vertrag, Miethe, Vermögensbeschädigung, Schenkung 2c.), theils erbrechtliche (letztwillige
Zuwendung, gesetzliches Erbrecht). Die auf diesen Gründen beruhenden Ansprüche kön-
nen von der Regierung nach eigenem Ermessen geltend gemacht und nicht geltend ge-
macht werden; diese Geltendmachung oder Nichtgeltendmachung ist ein Ausfluß der
libera administratio der Exekutive, der Landtag hat nur das Recht der allgemeinen
Kontrole und Kritik über die Art und Weise, wie die Staatsregierung verfährt. Da
es aber die Pflicht der Beamten ist, als Organe des Königs die Rechte des Fiskus
wahrzunehmen, so ist ein Verzicht auf diese privatrechtlichen Ansprüche nur statthaft,
wenn der König ihn speziell genehmigt oder seine Organe generell zum Verzicht er-
mächtigt. So darf z. B. ohne spezielle Genehmigung des Königs kein Kassen= oder
Rechnungsdefekt niedergeschlagen, kein Pachtgeld erlassen, kein Kontrakt zum Vortheil
des anderen Kontrahenten aufgehoben oder verändert, kein Holz aus den Staatsforsten
unentgeltlich oder aus freier gand unter der Taxe verabreicht werden (Instruktion für
die Oberrechnungskammer vom 18. Dezember 1824 88 30, 9, 19, 32).
Zu den auf staatsrechtlichen Gründen beruhenden Einnahmen gehören insbesondere
die Steuern, Abgaben und Gebühren. Während das Privatrecht dispositiver, ist das
Staatsrecht zwingender Natur (jus dispositivum — jus cogens). Die Steuerbehörde
ist daher durch die Steuergesetze nicht blos berechtigt, sondern verpflichtet, die Steuern
zu erheben. Wird ihr durch den zuständigen Vorgesetzten der Befehl ertheilt, eine
Steuer nicht zu erheben, so hat sie zu gehorchen. Es ist aber streitig, ob dieser Befehl
ertheilt, ob also auf die Erhebung einer Steuer, Abgabe, Gebühr verzichtet werden darf.
In der absoluten Zeit hat der König selbstverständlich das Verzichtsrecht gehabt.
Selbst wenn der Verzicht durch ein Gesetz verboten gewesen wäre, so hätte er, als der
alleinige Gesetzgeber, diese Selbstbeschränkung seines absoluten Willens zu jeder Zeit
beseitigen können. Ein solches Verbot existirt aber nicht, das Verzichtsrecht wird überall
stillschweigend vorausgesetzt, die Ausübung desselben aber durch § 9 Abs. 1 der In-
struktion vom 18. Dezember 1824 dem Könige selbst reservirt:
Erlasse von Steuern, Domänen und anderen Gefällen, sowie an Pachtgeldern
im Wege der Gnade dürfen nur auf Unsere besondere Genehmigung stattfinden.
Dieses Recht der Krone ist durch ein besonderes Gesetz nicht aufgehoben worden,
und es kann sich daher nur darum handeln, ob es mit den Bestimmungen der Ver-
fassungsurkunde vereinbar ist.
Zunächst ist es klar, daß es mit dem Budgetrecht des Landtages nicht in Wider-
spruch steht, da ja der Etat, der mit dem Etatsgesetz publizirte Generaletat und die
Spezialetats, nur die Gesammterträge der Einnahmequellen veranschlagt, dagegen die
Festsetzung und Erhebung der einzelnen Stener, Abgabe und Gebühr auf Grund der
besonderen Stenergesetze erfolgt, also die Erhebung oder hichterhebung nicht gegen den
Etat verstößt. Ebensowenig verstößt das Recht gegen die Bestimmung des Art. 62
Abs. 1 der Verfassungsurkunde. Die Ausübung des Verzichtsrechtes ist kein Akt der
Gesetzgebung, der König hebt das Gesetz nicht für diesen bestimmten einzelnen Fall auf,
wozu er allerdings, da ihm kein Dispensationsrecht zusteht, der Zustimmung des Land-
tages bedürfte (siehe Anm. B. 3. c zu Art. 62, oben S. 202). Das Gesetz bleibt bestehen, der
Gutsbesitzer, welcher ein Fideikommiß errichtet hat, ist nunmehr schuldig, die Fidei-
kommißstempelabgabe zu entrichten, der Betrag der Abgabe wird von der Steuerbehörde
als Einnahme gebucht, aber die wirkliche Einzahlung wird erlassen, der Betrag wieder
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