Full text: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.

1. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 106. 333 
sei Beamter oder sei nicht Beamter, hat also das Preußische Gesetz, die Preußische Ver- 
ordnung auf einen etwaigen Widerspruch mit dem Reichsrecht zu prüfen. Ergiebt sich 
ein solcher Widerspruch, so sind die Preußischen Vorschriften für den Nichtbeamten un- 
verbindlich. Ebenso sind sie unverbindlich für den Richter, welcher nach Art. 86 der 
Verfassungsurkunde und § 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (siehe Anm. B. zu Art. 86 
oben S. 250) keiner anderen Autorität als der des Gesetzes unterworfen ist, also dem 
Befehl der Reichsverfassung zu gehorchen hat, daß das Reichsrecht dem Landrecht vor- 
geht. Dagegen ist der Verwaltungsbeamte darauf beschränkt, die höhere Stelle auf den 
Widerspruch mit dem Reichsrecht aufmerksam zu machen, und ist befugt, mit seiner 
Remonstration bis an die höchste Stelle, also bis zum König, zu gehen. Dringt er mit 
seiner Remonstration nicht durch, so hat er zu gehorchen, ist aber frei von jeglicher Ver- 
antwortung. Denn der in verschiedenen Deutschen territorialen Verfassungen und Staats- 
dienergesetzen ausgesprochene Satz, daß die in gehöriger Form erlassenen Befehle zu- 
ständiger vorgesetzter Behörden den gehorchenden Beamten von der Verantwortlichkeit 
befreien und nur den Befehlenden verantwortlich machen, gilt unzweifelhaft auch für 
das Preußische Staatsdienerrecht (v. Schulze Bd. I. § 100 S. 316/317). 
Was die Königlichen Verordnungen allein betrifft, so sind die nicht gehörig be- 
kannt gemachten für gar nicht existent zu crachten. Sind sie gehörig bekannt gemacht, 
so sind sie für jeden Nichtbeamten und natürlich ebenso außerhalb seines amtlichen 
Wirkungskreises für jeden Beamten nur dann verbindlich, wenn sie materiell rechtsgiltig 
sind, d. h. nicht mit der Verfassung oder mit den Spezialgesetzen in Widerspruch stehen. 
Dagegen sind die Behörden zur Prüfung der Rechtsgiltigkeit der gehörig bekannt ge- 
machten Königlichen Verordnungen nicht befugt, innerhalb seines amtlichen Wirkungs- 
kreises hat jeder Beamter, auch der richterliche, sie zu befolgen, selbst wenn sie in den 
Bereich der Gesetzgebung hinübergreifen, also nur mit Zustimmung der Kammern hätten 
erlassen werden dürfen, vorausgesetzt, daß sie dem Reichsrecht nicht widersprechen. 
Abs. 2, welcher erst infolge Proposition XIII. der Königlichen Botschaft vom 
7. Januar 1850 in die Verfassungsurkunde ausgenommen ist, wird von v. Schulze 
ein „absolutistischer Ueberrest des positiven Preußischen Staatsrechts“ genaunt, „welcher, 
als ein unmittelbarer Ausfluß der Stahl'schen Doktrin, die Grundlagen des konstitutio- 
nellen Rechtstaates wieder in Frage stellt, besonders solange die allein noch als Rechts- 
hülfe gegen Uebergriffe der Regierung übrig bleibende Ministerverantwortlichkeit ein 
leeres Wort ist.“ (Bd. II. § 175 S. 46, 47). Es ist klar, daß durch Abs. 2 ein Wider- 
spruch in die Verfassungsurkunde gebracht ist, denn nach ihm dürfen nicht einmal die 
Gerichte die Prüfung der inneren Rechtsgültigkeit vornehmen, obschon sie nach Art. 86 
keiner anderen Antorität als der des Gesetzes unterworfen sein sollen. Man muß auch 
v. Schulze darin zustimmen, daß die Aufnahme einer solchen Bestimmung nur aus 
„der damaligen Unerfahrenheit im konstitutionellen Staatsrechte“ zu erklären ist. Aber 
man muß sich hüten, die Bedeutung des Abs. 2 zu überschätzen. Sein Zweck ist der, 
den Zweifel über die Rechtmäßigkeit des Königlichen Erlasses innerhalb der Grenzen 
derjenigen Staatsorgane zu halten, welche die nächstbetheiligten dabei sind, nämlich 
König und Landtag, und zu verhindern, daß er auch in die unteren Organe der Staats- 
regierung dringe, diese hemme oder zersetze. Er ertheilt daher den Königlichen Verord- 
nungen weder definitive, noch, gleich den Verordnungen des Art. 63, provisorische Ge- 
setzeskraft, sondern verbietet nur dem unmittelbaren wie mittelbaren Staatsbeamten die 
Prüfung der materiellen Rechtsgültigkeit. Ueberall aber, wo es sich nicht um eine In- 
anspruchnahme der Staatsbehörden handelt, oder wo diesc, ohne eine selbstständige Ent- 
scheidung zu treffen, den Intentionen der sie angehenden Personen zu folgen haben, 
z. B. vor Schiedsmann und vor Schiedsrichter, ebenso auf dem ganzen Gebiete der sog. 
freiwilligen Gerichtsbarkeit, — und nicht minder natürlich auf dem Gebiete der Kirche — 
ist die Prüfung der Rechtsgültigkeit unbeschränkt. Auf dem Gebiete des Strafrechts ist 
sie dies auch für die Staatsbehörden, insbesondere die Gerichte. Denn wegen Auflehnung 
gegen rechtsgültige Gesetze und gegen rechtmäßige Befehle und Handlungen der Be- 
hörden kann Strafe nur verhängt werden, wenn der Angeklagte jene Rechtsgültigkeit, 
jene Rechtsmäßigkeit kannte oder doch kennen mußte und konnte, und dies ist natürlich 
nicht der Fall, wenn nach den Normen der Verfassungsurkunde das Gesetz gar nicht 
cxistirt. Ferner trägt der Abs. 2 in sich selbst eine Beschränkung. Arndt (S. 163, 
auch Anm. 1 zu Art. 107 auf S. 177) sagt: „ein Mittel, den König zu hindern, die 
Verfassung ohne Weiteres aufzuheben und eine andere in der Gesetzsammlung zu ver- 
künden, giebt es nicht.“ Diese Aeußerung ist irrig. Wenn der König durch eine Ver- 
ordnung die Verfassung aufhebt, so hebt er damit auch den Abs. 2 des Art. 106 auf,
	        
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