II. Ges. ũber ꝛc. Bundes- u. Staatsangehörigkeit v. 1. Juni 1870. 87. 355
87.
Die Aufnahmeurkunde wird jedem Angehörigen eines anderen
Bundesstaates ertheilt, welcher um dieselbe nachsucht und nachweist,
daß er in dem Bundesstaate, in welchem er die Aufnahme nachsucht,
sich niedergelassen habe, sofern kein Grund vorliegt, welcher nach den
88 2 bis 5 des Gesetzes über die Freizügigkeit vom 1. November 1867
(Bundesgesetzbl. S. 55) die Abweisung eines Neuanziehenden oder die
Versagung der Fortsetzung des Aufenthalts rechtfertigt.
A. Nach Art. 3 der Verfassung des Deutschen Reichs besteht für ganz Deutschland ein ge-
meinsames Indigenat mit der Wirkung, daß der Angehörige (Unterthan, Staatsbürger)
eines jeden Bundesstaates in jedem anderen Bundesstaate als Inländer zu behandeln
und demgemäß zum festen Wohnsitz, zum Gewerbebetriebe, zu öffentlichen Aemtern, zur
Erwerbung von Grundstücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechtes und zum Genusse
aller sonstigen bürgerlichen Rechte unter denselben Voraussetzungen wie der Einheimische
zuzulassen, auch in Betreff der Rechtsverfolgung und des Rechtsschutzes demselben gleich
zu behandeln ist. In der Ausübung dieser Befugnisse darf kein Deutscher durch die
Obrigkelt seiner Heimath oder durch die Obrigkeit eines anderen Bundesstaates beschränkt
werden. Die Aufnahme in den Preußischen Staatsverband kann nur in Ermangelung
der in § 7 aufgestellten Erfordernisse verweigert werden. Diese Erfordernisse sind:
1. Der Angehörige des anderen Bundesstaates muß um dieselbe nachsuchen. Eine
Aushändigung der Aufnahmeurkunde, ohne daß der Empfänger darum nachgesucht hat,
überträgt die Staatsangehörigkeit nur dann, wenn der Empfänger Preuße sein will,
welchen Willen er sowohl ausdrücklich als auch durch schlüssige Handlungen bekunden kann.
2. Er muß nachweisen, daß er in dem Bundesstaate, in welchem er die Aufnahme
nachsucht, sich niedergelassen habe. Der Begriff der Niederlassung ist aus dem Gesetz
vom 1. November 1867 zu entnehmen. Dasselbe läßt zunächst die Bestimmungen über
die Fremdenpolizei unberührt und schließt damit das bloß momentane körperliche Ver-
weilen Reisender oder Fremder von der neu zu schaffenden Regelung aus. Für diese
aber unterscheidet es scharf zwischen Aufenthalt und zwischen Niederlassung. Unter jenem
kann daher nur der vorübergehende, unter dieser nur ein ständiger, mit der Absicht
längerer Dauer verbundener Zustand verstanden werden, dergestalt, daß der letztere zur
Wohnsitzbegründung dann ausreichen würde, wenn zu seinem thatsächlichen Momente
noch die rechtlichen Voraussetzungen hinzutreten. Die Begründung eines solchen dauern-
den, ständigen Aufenthaltsverhältnisses bildet als Niederlassung auch die Voraussetzung
für die Entstehung des Anspruches auf Ertheilung der Aufnahmeurkunde in dem Falle
der §5 7 und 21 Nr. 5 des gegenwärtigen Gesetzes. Zu dieser Begründung ist weder
der Besitz eines eigenen selbstständigen Geschäftes, noch die Beschaffung einer dauernden
eigenen Wohnung nebst Errichtung eines Hausstandes im Gegensatze zu einer Schlaf-
stelle oder dem Logis bei einem Arbeitgeber erforderlich. Somit können auch Gewerbe-
gehilfen, Dienstboten u. ä. eine Niederlassung begründen, und genügt schon ein „Unter-
kommen"“", sofern nur bei dem Beginne oder während der Fortsetzung des Aufenthaltes
irgend welche Umstände hervortreten, aus welchen erkennbar wird, daß dabei ein Meh-
reres als ein bloß vorübergehender Zustand beabsichtigt wird (Oberverwaltungsgericht
11. November 1891, Entscheidungen Bd. 22 S. 389).
Selbstverständlich kann derjenige, welcher an einem Orte sich aufzuhalten gar
nicht befugt ist, sich dort nicht niederlassen. Daher können Angehörige des Ordens der
Gesellschaft Jesu oder der ihm verwandten Orden oder ordensähnlichen Kongregationen,
denen in Gemäßheit § 2 des Gesetzes, betreffend den Orden der Gesellschaft Jesu,
vom 4. Juli 1872 (Reichs-Geseybl. S. 253) der Aufenthalt in bestimmten Bezirken
oder Orten angewiesen ist, eine andere als ihre bisherige Staatsangehörigkeit nur dann
erwerben, wenn sie nicht in ihrem Heimathsstaate internirt sind und Angehörige grade
des Internirungsstaates werden wollen. Uebrigens ist die Niederlassung keine absolute
Voraussetzung der Aufnahme, wie auch aus § 9 Abs. 1 hervorgeht. Daher ist die ver-
leihende Behörde befugt, auch ohne Niederlassung die Aufnahmeurkunde zu ertheilen.
Selbst bei Erfüllung dieser Erfordernisse kann aber die Aufnahme verweigert
werden, wenn einer der Gründe vorliegt, welche nach §§ 2 bis 5 des Gesetzes vom
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