Full text: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.

50 I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 4. 
Artikel 4. 
Alle Preußen sind vor dem Gesetze gleich. Standesvorrechte fin- 
den nicht statt. Die öffentlichen Aemter sind, unter Einhaltung der 
von den Gesetzen festgestellten Bedingungen, für alle dazu Befähigten 
gleich zugänglich. 
A. Die bürgerlichen Rechte, droits civils, (Art. 3 Anm. B.) werden vom Staate unterschiedslos 
jedem Staatsangehörigen wegen seiner rechtlichen Eigenschaft als Theilnehmer der Staats- 
enossenschaft gewährt. Jeder Staatsangehörige hat zunächst Anspruch auf den staatlichen 
Schut im In- und Auslande und auf die durch die innere Verwaltung geleistete für- 
serhubee staatliche Thätigkeit. Diesen affirmativen Rechten stehen die negativen Frei- 
heitsrechte gegenüber, welche dem einzelnen Staatsbürger die Freiheit von Einwirkun- 
gen der Staatsgewalt verbürgen, die sog. Grundrechte oder Volksrechte. Die Verfassungs- 
urkunde handelt von diesen Grundrechten in den Artikeln 4 bis 42. Außerdem hat die 
Reichsgesetzgebung auf mehreren wichtigen Gebieten die religiöse, wirthschaftliche, bürger- 
liche und politische Freiheit durchgeführt und insoweit einen von der Landesgesetzgebung 
nicht mehr anzutastenden Rechtskreis geschaffen. 
Die Grundrechte, wie sie durch die Verfassungsurkunde und die Reichsgesetzgebung 
normirt worden sind, beziehen sich auf die Freiheit und Sicherheit der Person (persönliche 
Freiheit, Versammlungs= und Vereinsrecht, freie Wahl des Aufenthaltsortes und Frei- 
zügigkeit, Auswanderungsfreiheit, freie Wahl von Beruf und Gewerbe), auf die freie 
Meinungsäußerung, insbesondere die Preßfreiheit, auf die religiöse Bekenntnißfreiheit 
und auf die Freiheit und Sicherheit des Eigenthums (Recht zum Erwerb und Besitz 
von Eigenthum, Unverletzlichkeit des Eigenthums, Freiheit des Grundeigenthums). Als 
formelle Rechte treten hinzu das Recht auf Schutz gegen Willkür rücksichtlich des Ge- 
richtsstandes und das Recht der Beschwerdeführung und Petition. 
Den Grundrechten stehen gegenüber die allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichten 
des verfassungsmäßigen Gehorsams, der Wehrpflicht und der Steuerpflicht. 
Mehrere der die Grundrechte festsetzenden Artikel der Verfassungsurkunde kön- 
nen gemäß Art. 111 zeit= und distriktsweise außer Kraft gesetzt werden. 
Den Nichtpreußen, zunächst den Angehörigen der anderen Deutschen Bundes- 
staaten, stehen die einzelnen Grundrechte insoweit zu, als sie nicht in der Verfassungs- 
urkunde ausdrücklich auf die Preußen beschränkt, oder als sie durch die Reichsgesetzgebung 
allgemein statuirt sind. 
Uebri igens fragt es sich, ob es sich bei den Grundrechten wirklich um subiektive 
Rechte der Staatsbürger oder ob es sich nur um objektive Rechtssätze handelt, durch 
welche der Staat seine Machtbefugnisse gegenüber dem Individuum und gegenüber ge- 
wissen Bevölkerungsgruppen, Verbänden kirchlicher oder wirthschaftlicher Rötr, selbst 
beschränkt, indem er diesen unter den vorausbestimmten Bedingungen Freiheit von der 
Einwirkung staatlicher Organe zusichert. Die letztere Alternative ist wohl zu bejahen, 
ohne daß es jedoch erforderlich ist, die Kontroverse für belangreich zu erachten. Denn 
zu welcher Ansicht man sich auch bekennen mag, ist ein Doppeltes unleugbar. Einerseits 
nämlich werden die Bestimmungen, daß die Person frei, die Wohnung und das Eigen- 
thum unverletzlich sind u. s. w., durch die in der Verfassungsurkunde vorgesehene Spe- 
Kalgesesgebung in so weitem Umfange aufgehoben, daß sie nahezu unwahr werden. 
u der anderen Seite wird die Rechtssphäre zwischen Staat und Individuum abgegrenzt, 
werden für die Verwaltung, insbesondere die Polizeiverwaltung, Schranken gezogen, bei 
deren Nichteinhaltung der Schutz der Gerichte — der ordentlichen oder der Verwaltungs- 
gerichte — angerufen werden kann. 
B. Die Gesetze sollen ohne Unterschied der Person gegen Jeden, er sei arm oder reich, vor- 
nehm oder gering, in vollem Umfange angewendet werden. Hiervon soll kein Gesetz 
irgend eine Ausnahme zu Gunsten eines Standes machen und alle politischen Vorrechte 
sollen aufgehoben sein, welche nach der früheren Gesetzgebung den einzelnen Mitgliedern 
ewisser Stände im Gebiete des öffentlichen wie des Privatrechtes oder ganzen Stände- 
lassen als solchen zugestanden haben. Insbesondere in Bezug auf öffentliche Aemter 
soll die Geburt Niemandem ein Vorrecht geben, sondern ein Jeder, also auch der Nicht- 
adelige, sich um dieselben, wenn er die gesetzlichen Bedingungen der Befähigung dazu 
erfüllt, bewerben und sie erlangen können. Siehe unten Anmerk. A zu Art. 47.
	        
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