Full text: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.

I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 9. 69 
einen Eingriff gleichwohl heischen, denselben nur gegen Entschädigung vornehmen. Aller- 
diugs ist die Gesetzgebung in dieser Beziehung an sch nicht beschränkt; wenn ein Gesetz 
wohlerworbene Rechte aufhebt oder einschränkt, so ist eine Anfechtun unmöglich und ein 
Entschädigungsanspruch nur dann vorhanden, wenn das Gesetz ihn sebbst zuspricht. Aber 
der Art. 9 will keineswegs die Gesetzgebung beschränken, sondern will verhindern, daß 
auch ohne sich auf ein Gesetz zu stützen, also willkürlich die Regierungsgewalt in das 
Privateigenthum eingreift. Das Eigenthum soll nicht der willkürlichen Enteignung durh 
die Regierungsgewalt unterliegen, sondern dieser gegenüber geschützt sein. Es soll nämli 
1. das Eigenthum der Privatpersonen nur aus Gründen des öffentlichen Wohles und 
nur gegen Entschädigung entzogen oder beschränkt werden; 
2. die Enschädigung soll in der Regel vor der Enteignung nicht bloß festgestellt, sondern 
auch geleistet, in dringenden Fällen jedenfalls soweit festgestellt werden, als dies 
zur Ergaaung einer richtigen Grundlage für die weitere endgültige Feststellung 
nöthig ist; 
3. die Entziehung oder Beschränkung des Eigenthums soll nur nach Maßgabe des 
Gesetzes stattfinden. 
Das von Art. 9 in's Auge gefaßte Gesetz ist ergangen als Gesetz über die 
Enteignung von Grundeigenthum vom 11. Juni 1874 (Ges.-Samml. S. 221, in 
dem Herzogthum Lauenburg eingeführt durch das Lauenburgische Gesetz vom 
28. April 1874, Offiz. Wochenbl. f. Lauenb. 1875 S. 291). Dasselbe bezieht 008. nicht 
auf bewegliche Sachen, sondern auf die Entziehung und Beschränkung von Grund- 
eigenthum, welchem die Rechte am Grundeigenthum gleichgestellt werden. Nach den 
Bestimmungen dieses Gesetzes kann das Grundeigenthum nur aus Gründen des 
öffentlichen Wohles für ein Unternehmen, dessen Ausführung die Ausübung des 
Enteignungsrechtes erfordert, gegen vollständige Entschädigung entzogen oder be- 
schränkt werden. Die Entziehung und dauernde Beschränkung des Grundeigenthums 
erfolgt auf Grund Königlicher Verordnung, welche den Unternehmer und das Unter- 
nehmen, zu dem das Grundeigenthum in Anspruch genommen wird, bezeichnet; für 
Geradelegung oder Erweiterung öffentlicher Wege, sowie zur Umwandlung von 
Privatwegen in öffentliche Wege und für nicht über drei Jahre dauernde Be- 
schränkungen genügt ein Beschluß des Bezirksausschusses. Spezielle, auch für die 
Königliche Verordnung bindende, resp. dieselbe erübrigende Vorschriften sind getroffen 
bezüglich der Eisenbahnen (8 23, Gesetz über die Eisenbahnunternehmungen vom 
3. November 1838 §§ 8 bis 10, Ges.-Samml. S. 505) und über Entnahme von 
Wegebaumaterialien (§8 50 bis * Der Unternehmer (Staat, Provinz, Kreis, Ge- 
meinde, Kirchengemeinde, Privatkorporation, einzelne Privatperson) erhält durch 
die Königliche Verordnung bezw. den Beschluß des Bezirksausschusses das Ent- 
eignungsrecht, d. h. das Recht, die zur Ausführung des im öffentlichen Interesse zu 
unternehmenden Werkes nnentbehrlichen Grundstücke auch gegen den Willen der Eigen- 
thümer zu erwerben. Das Enteignungsverfahren gliedert sich in drei Abschnitte: 
die Bestimmung der Gegenstände der Enteignung, die Feststellung der Entschädigung 
und die Vollziehung der Enteignung. Die letztere darf erst dann stattfinden, wenn 
die beiden ersten Abschnitte durch rechtskräftige Entscheidung des Bezirksausschusses 
abgeschlossen und die Entschädigungs= oder Kautionssumme rechtsgültig gezahlt oder 
hinterlegt ist. Mit Zustellung des Enteignungsbeschlusses an Eigenthümer und 
Unternehmer geht das Eigenthum des enteigneten Grundstückes auf den Unter- 
nehmer über. 
Das Enteignungsgesetz hebt die ihm entgegenstehenden Bestimmungen auf (8 57), 
findet aber keine Anwendung auf die in besonderen Gesetzen oder im Gewohnheits- 
recht begründete Entziehung oder Beschränkung des Grundeigenthums im Interesse 
der Landeskultur als: bei Regulirung gutsherrlicher und bäuerlicher Verhältnisse, 
Ablösung von Reallasten, Gemeinheitstheilungen, Vorfluthsangelegenheiten, Ent- 
wässerungs= und Bewässerungsangelegenheiten, Benutzung von Privatflüssen, Deich- 
angelegenheiten, Wiesen= und Waldgenossenschaftsangelegenheiten, und findet ferner 
keine Anwendung auf die Entziehung und Beschränkung des Grundeigenthums im 
Interesse des Bergbaues und der Landestriangulation (§ 54). Die auf diese Aus- 
nahmen bezügliche Gesetzgebung ist eine sehr zersplitterte. Auf die Fälle des Berg- 
baues und der Landestriangulation beziehen sich Abschn. 1 Tit. 5 des für die ganze 
Monarchie gültigen Allgemeinen Berggesetzes für die Preußischen Staaten vom 
24. Juni 1865 (Ges.-Samml. S. 733) und das, mit Ausnahme der Hohenzollernschen 
Lande und des Jadegebietes, ebenfalls auf die ganze Monarchie erstreckte Gesetz,
	        
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