8 15. Ausübung der Staatsgewalt für den Herrscher. 35
Die Verfassungsurkunde läßt nicht in jedem Falle der Behinderung oder Regierungs-
unfähigkeit die Notwendigkeit einer Reichsverwesung eintreten. Die Regentschaft soll viel-
mehr nur dann Platz greifen, wenn 1) die Ursache, welche dem Könige die Ansübung der
Regierung unmöglich macht, „auf längere Zeit" wirkt und wenn außerdem 2) der König
„für die Verwaltung des Reiches nicht selbst Vorsorge getroffen hat oder treffen kann"“
(Tit. II § 9 b).
Was als „längere Zeit“ im Sinne der erstgenannten Gesetzesverfügung zu erachten
sei, wird an anderer Stelle (Tit. II § 11) näher mit den Worten bezeichnet, daß es sich
um eine Ursache handeln müsse, „die in ihrer Wirkung länger als ein Jahr dauert". Es
kann vernünftiger Weise nicht die Absicht der Verfassungsurkunde sein, hiemit auszusprechen,
daß die Wirkung fraglicher Ursache bereits ein Jahr gedauert haben müsse, wenn an eine
Reichsverwesung solle gedacht werden dürfen. Vielmehr wird, wenn nach menschlichem Er-
messen von vorneherein anzunehmen ist, daß die Behinderung oder Regierungsunfähigkeit
des Herrschers länger als ein Jahr anhalten werde, die Reichsverwesung sofort einzutreten
habe. Dies ist denn auch in den beiden Fällen, welche sich im Jahre 1886 ergeben haben,
geschehen 1). Man wird übrigens sogar die Frage aufwerfen dürfen, ob es überhaupt mög-
lich wäre, selbst bei voraussichtlich kürzerer Dauer der Behinderung oder Regierungsun-
fähigkeit von der Einsetzung einer Reichsverwesung abzusehen.
Die Reichsverwesung tritt nicht ein, wenn der König für seine Stellvertretung Vor-
sorge getroffen hat. Nach dem Wortlaute der Verfassung schließt nur diejenige Stellver-
tretung den Eintritt der Reichsverwesung aus, welche von dem Könige selbst, dem die Aus-
übung der Regierung unmöglich ist, und zwar für diesen Fall angeordnet wurde.
Die Verfassung (Tit. II § 11) sagt, daß die außerordentliche Reichsverwesung „mit
Zustimmung der Stände, welchen die Verhinderungsursachen anzuzeigen sind“, stattfinde.
Die Verfassung sagt dagegen nicht, von wem, wenn nicht etwa der König selbst hiezu fähig
sein sollte, diese Zustimmung einzuholen sei. Ich habe mich im ersten Bande meines baye-
rischen Staatsrechts (I. Auflage, S. 460 ff.) dahin ausgesprochen, daß der berufene Regent
unter verantwortlicher Mitwirkung des Staatsministeriums dies zu tun habe. Nach dieser
Ansicht ist auch in den jüngst vorgekommenen Fällen verfahren worden.
Gegenstand der Anerkennung des Landtages ist nicht die Person des Regenten, sondern
die Tatsache der Notwendigkeit der Regentschaft.
Selbstverständlich ist, daß mit dem Augenblicke, mit welchem durch Einberufung des
Landtages die Regierungsfähigkeit des Königs in Zweifel gezogen ist, die Ausübung der
Regierungsgewalt durch den König gehemmt sein muß?). Eben deswegen wird sich die
Ansicht rechtfertigen, daß der Regent im gleichen Augenblicke vorbehaltlich der Anerkennung
der Regentschaft die Regierungsgeschäfte zu übernehmen hats).
Die staatsrechtlichen Grundsätze über die Berufung zur Regentschaft sind für die
ordentliche und außerordentliche Reichsverwesung teilweise verschieden.
Bei der ordentlichen Reichsverwesung steht dem Regierungsvorgänger das Recht zu,
den Reichsverweser für seinen minderjährigen Nachfolger unter deu volljährigen Prinzen
des königlichen Hauses zu wählen (Verf.-Urk. Tit. 1I § 10).
Die Ernennung geschieht durch eine vom Könige ausgefertigte Urkunde und bedarf
1) Aekanntmachung, die Uebernahme der Regentschaft und die Einberufung des Landtage
betr., vom 10., Thronfolge= und Regentschaftspatent vom 14. Juni 1886 (G.V. Bl. S. 299, 30 1).
2) Andererseite kann die Gülligkeit königlicher Regierungshandlungen, die vor diesem Zeit-
punkte liegen, nicht mit der Behauptung angefochten werden, daß der König schon vorher regierungs-
unsähig gewesen sei. Dgl. Verh. der Kammer der Reichsräte 1883/86 Prot. Bd. V S. 910 f.,
630 ff. (Reichsrat Dr. von Neumayr, Staateminister Dr. Frhr. von Lu).
3) Im Patente vom 14. Jmi 1886 heißt es: „IJndem Wir die Neichsverwesung hiemit
übernehmen“.
-r!si