Die Vorgeschichte des Krieges 499
auch diese Episoden, so hoffnungsvoll sie jedesmal begrüßt werden,
dem Rückblickenden nur wie ein hastiges Atemschöpfen inmitten eines
lautlosen und atemberaubenden Kräfteerprobens, das jedesmal auf ein
noch erbitterteres Ringen vorbereitet.
Oie erste dieser Machtproben, die bosnische Krisis von 1908/09, brach
unerwartet aus und bewies durch ihren Verlauf, daß zunächst von einem
einheitlichen Operieren der Einkreisungspolitik noch nicht gesprochen
werden konnte.
Unmittelbar nach der Zusammenkunft von Reval hatte die lebhaft
beflügelte Phantasie des Ministers Iswolski sich in Bewegung gesetzt.
In einem Briefe vom 18. Juni 1908, den er später gern abgeleugnet
hätte, regte er bei dem Leiter der Politik Österreich-Ungarns die An-
nexion von Bosnien und der Herzegowina und sogar des Sandschak an,
wogegen Rußland für sich die freic Durchfahrt durch dic Dardanellen
als Gegengabe zu gewinnen sich vorsetzte. Rußland hatte selbst vor
einem Menschenalter die Doppelmonarchic nach Bosnien geführt und
spaäter wiederholt, zuletzt noch durch den Mund Kuropatkins vor dem
Japankriege, in Wien angeregt, die im Berliner Vertrage übertragene
Verwaltung der Provinzen in eine tatsächliche und sinnentsprechende
Annexion zu verwandeln. Iswolski verharrte also nur in den Bahnen
einer dreißigjährigen Politik Rußlands, die, frei von irgendwelcher
Rücksicht auf den kleinen serbischen Bruder, diese Gebiete als unbe-
strittenc Interessensphäre Österreich-Ungarns anerkannte: hatte sie doch,
nach dem bitteren Worte König Milans, bisher „die serbische Nation
immer als bequemes Kleingeld zur Begleichung ihrer Rechnungen mit
Österreich benutzt“.:1) Der russische Minister hielt auch nach dem Aus-
bruch der jungtürkischen Revolntion an seinem Programm fest und
einigte sich in einer Zusammenkunft mit dem Grafen Achrenthal in
Buchlau ohne Mühe über seine Ourchführung.-2)
Es ist begreiflich, daß ÖOsterreich-Ungarn mit dieser Rückendeckung
zum schnellen Handeln schritt. Denn der Versuch einer Umbildung der
Türkei in einen verfassungsmäßigen Nationalstaat mußte den bisher
erträglichen völkerrechtlichen Zustand in Bosnien gefährden: sowohl
21) Dr. Wladan Georgewitsch, Die Serbische Frage S. 61.
22) Aus dem späteren publizistischen Gefecht der beiden Minister in der
öffentlichkeit (Vortnightly Review. September und N-ovember 1909) gewinnt jeder
Unbefangene den Eindruck, daß Iswolski als der nachweislich Unaufrichtigere
und Ungeschicktere seinem Partner den Vorwurf der Unaufrichtigkeit nur darum
macht, weil er ihm die überlegene Geschicklichkeit nicht zu bestreiten vermag. Vgl.
auch H. Friedjung, Österreichische Rundschau, Oktober 1909.
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