Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

453 
werden? Wer hat Gott eine Wohltat gespendet, 
so daß er sie vergelten müßte? Wie ließe sich die 
Haltung der Verträge durch die göttliche Gerech- 
tigkeit und das Verbot des Totschlags aus der 
göttlichen Heiligkeit begründen? Ein dem gött- 
lichen Willen vorausgehendes ewiges Gesetz als 
Quelle des Naturgesetzes ist ein bloßes fgmen- 
tum scholasticorum (diss. prooemialis § 6. 
1 1, 31; 12, 7;14, 22/28). Das ins Herz 
geschriebene Naturgesetz stammt inhaltlich aus der 
endlichen Natur, insbesondere geselligen Natur des 
Menschen und seiner Verpflichtung nach aus dem 
göttlichen Willen. Wie die Natur des Menschen, 
so ist auch das Naturrecht seinem allgemeinen In- 
halt nach unveränderlich; die Handlungen, welche 
dessen Objekt bilden, sind gut von Natur aus, 
aber erst durch Gottes Willen erlangen sie ver- 
pflichtende Kraft, also eigentlichen Gesetzescharakter, 
was sowohl die Scholastiker als Hugo Grotius ver- 
kannt haben (I 1, 28. 136; 12, 74/98). Als 
erstes praktisches Prinzip stellt sonach Thomasius 
auf: Imperanti para, gehorche Gott, der all 
unserer Verpflichtung Quelle ist, und dem, welcher 
wahrhaft in seinem Namen befiehlt! (1 3, 34 ff.) 
Dieses Prinzip ist inhaltsleer; denn es fragt sich 
weiter: was Gott befehle Die Antwort geht da- 
hin: Da Gott die vernünftige Natur des Men- 
schen schuf, wollte er all das befehlen und schrieb 
all das in die Herzen hinein, was mit der ver- 
nünftigen Natur des Menschen übereinstimmt. 
Das erste naturrechtliche Gebot, worunter alle 
andern naturrechtlichen Gebote begriffen sind, 
lautet somit also: „Tue das, was mit der ver- 
nünftigen Natur des Menschen übereinstimmt"“ 
(12, 72. 97; 1 4, 2/7). Da die vernünftige 
Natur des Menschen jedoch nur in der Gesellschaft 
sich entwickeln und zeitlicher Glückseligkeit teilhaft 
werden kann, so ist dieses Gebot noch bestimmter 
dahin zu präzisieren: „Tue das, was mit der ge- 
selligen Natur des Menschen übereinstimmt" 
(I 4, 54/64). Aus diesem Gebot ergeben sich 
dann im besondern die Pflichten gegen Gott, 
gegen sich selber und gegen andere. Die Pflichten 
gegen andere bestehen in der Achtung der an- 
gebornen Rechte derselben, in der Förderung ihres 
Nutzens, solange Ungeteiltheit des Eigentums 
(communio bonorum negativa) statthatte oder 
statthat, der Achtung des durch Okkupation er- 
worbenen Eigentums sowie Haltung der Verträge 
(II 2/10). Besondere Pflichten und Rechte gegen- 
über andern erwachsen ferner daraus, daß der 
Mensch nicht bloß ein Glied der menschlichen Ge- 
sellschaft im allgemeinen ist, sondern auch ein 
Glied verschiedener besonderer Gesellschaften, die 
von Natur aus bestimmte Zwecke zu erfüllen haben, 
wie z. B. die Ehe, die Familie, das Haus, die 
Gemeinde, die Provinz, der Staat, die Völker- 
gemeinschaft. Entweder sind sie natürliche Gesell- 
schaften insofern, als sie von Natur wegen bestehen, 
ohne alle Mitwirkung des Willens, wie z. B. die 
allgemeine Völkergemeinschaft, oder sie sind solche 
Thomasius. 
454 
insofern, als eine vernünftige Neigung den Willen 
zu ihrer Begründung antreibt, wie z. B. die Ehe, 
der Staat, bestimmte Völkerbünde usw. Im 
letzteren Fall kommt ihre wirkliche Konstituierung 
durch freien Vertrag zustande (III 1, 1/41; III6, 
7/13). Die Konstituierung des Staats erfordert 
nach Thomasius sogar einen Doppelvertrag wie 
nach Pufendorf, nämlich einen Vereinigungs- 
vertrag, verbunden mit dem Beschluß einer be- 
stimmten Regierungsform, und einen Unter- 
werfungsvertrag, wodurch der oberste Machthaber 
oder die obersten Machthaber bestimmt werden, 
deren Zwangsgewalt die Bürger unterstellt sein 
sollen (III6,29/31).Die Souveränität(maiestas) 
wird nicht unmittelbar, sondern mittelbar von Gott 
übertragen. Ist die Zustimmung des Volks zur 
rechtmäßigen Erwerbung derselben auch erforder- 
lich, so können doch die Arten und Weisen, jene 
Zustimmung herbeizuführen, sehr verschiedene sein: 
völlig freie Entschließung, gerechte, ja selbst un- 
gerechte Gewaltmaßregeln usw. (III 6, 66/92). 
Nach Thomasius ist all diesem zufolge nicht der 
Vertrag und noch weniger der Staatsvertrag 
Quelle allen Rechts. Jeder Vertrag setzt die Ver- 
pflichtung voraus, ihn zu halten; diese Verpflich- 
tung wurzelt aber im göttlichen Willen (I 1, 29. 
136). Ferner gibt es natürliche, angeborne Rechte, 
welche der Mensch unmittelbar von Gott hat, 
ohne freie Zustimmung. Dahin gehört insbeson- 
dere das Recht, durch Okkupation Eigentum zu 
erwerben; letzteres ist nicht durchgehends und 
schlechthin auf dem Vertragsweg entstanden, wie 
Pufendorf meinte, obgleich es vielfach so ent- 
standen sein mag, um eine feste Ordnung herbei- 
zuführen oder Streitigkeiten vorzubeugen (1 1. 
114; II 10, 101/103). Endlich gibt es auch 
natürliche Gesellschaften mit Rechten und Pflichten 
vor allem Vertrag und in manchen derselben — 
in denen nämlich, die aus ungleichen Gliedern be- 
stehen — sogar eine Herrschaft, die nicht aus dem 
Vertrag stammt (III 1, 59/64). 
Während Thomasius in diesem seinem ersten 
Hauptwerk die Rechte und Pflichten auf dar- 
gelegte Weise aus dem Trieb der Geselligkeit ab- 
zuleiten versuchte, als der Bedingung der irdischen 
Glückseligkeit (I 4, 57), will er in seinem zweiten, 
gereisteren, von Locke beeinflußten Hauptwerk 
Fundamenta iuris naturalis etgen- 
tium Rechte und Pflichten geradezu aus dem 
Trieb nach Glückseligkeit ableiten und nicht mehr 
aus dem Trieb der Geselligkeit, weil aus diesem 
letzteren die Pflichten gegen sich selbst und die 
eigentlichen sittlichen Vorschriften (praecepta 
honesti) nicht klar abgeleitet werden können und 
die Vorschriften des Gerechten und Wohlanstän- 
digen (praecepta jiusti et decori) gar nicht oder 
wenigstens nicht genau unterschieden werden 
(Fund. 1 6, 19). Hiermit ist schon ein zweiter, 
ebenso bedeutender Schritt bezeichnet, welchen er, 
über Pufendorf hinausgehend, nunmehr unter- 
nommen hatte, nämlich die Scheidung der Natur- 
15. 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.