Ausgang des fridericianischen Zeitalters. 103
Form und Ausdruck finden muß. Aber die Nation lief Gefahr einer
krankhaften Ueberschätzung der geistigen Güter zu verfallen, da ihr litera—
risches Leben so viel herrlicher war als das politische. Der Patriotismus
ihrer Dichter blieb zu innerlich um unmittelbar auf das Volksgefühl zu
wirken. Der edle weltbürgerliche Zug, der die gesammte Literatur des
achtzehnten Jahrhunderts erfüllte, fand hier nicht wie in Frankreich ein
Gegengewicht an einem durchgebildeten Nationalstolze, er drohte die
Deutschen ihrem eigenen Staate zu entfremden.
So glänzend hatte Deutschland seit Luther's Tagen nicht mehr in
der europäischen Welt dagestanden wie jetzt, da die ersten Helden und
die ersten Dichter eines reichen Jahrhunderts unserem Volke angehörten.
Und solche Fülle des Lebens nur hundert Jahre nach der Schande der
Schwedennoth! Wer damals die Lande der größeren weltlichen Reichs—
stände in Mittel- und Norddeutschland durchreiste, gewann den Eindruck,
als ob hier ein edles Volk in friedlicher Entwicklung einer schönen Zu—
kunft entgegenreifte. Die humane Bildung der Zeit bethätigte sich in
zahlreichen gemeinnützigen Anstalten; die alte Landplage der Bettler ver—
schwand von den Landstraßen, die größeren Städte sorgten freigebig für
ihre Armen- und Krankenhäuser; eifrige Pädagogen bemühten sich nach
neu erfundenen Systemen die Jugend wissenschaftlich zu bilden ohne ihr
die Unschuld des Rousseau'schen Naturmenschen zu rauben. Ueberall
rüttelte die aufgeklärte Welt an den trennenden Schranken der alten
ständischen Ordnung; schon fanden sich einzelne Edelleute, die freiwillig
ihren Gutsunterthanen die Freiheit schenkten; die Philosophen vernahmen
mit Befriedigung, daß eines Schinders Sohn in Leipzig Arzt geworden,
ein junger Frankfurter Doctor im adelstolzen Weimar über die Schultern
der eingeborenen Edelleute hinweg zum Ministerposten aufgestiegen war.
Eine heitere Naturschwärmerei verdrängte die alte Angst vor den Unbilden
der freien Luft, die philisterhaften Gewohnheiten des Stubenlebens: die
Gelehrten fingen an sich wieder heimisch zu fühlen auf Gottes Erde. Und
doch war dies Volk im Innersten krank. Unbewegt und unversöhnt stand
die große Lüge des Reichsrechts neben der neuen Bildung und dem neuen
Staate der Deutschen; alle Fäulniß, alle Niedertracht des deutschen Lebens
lag wie ein ungeheurer Scheiterhaufen angesammelt in den Kleinstaaten
des Südens und Westens, dicht neben dem ruhelosen Nachbarvolke, das
den Feuerbrand über die Grenze schleudern sollte. Der Ruhm des fri-
dericianischen Zeitalters war kaum verblichen, als das heilige römische
Reich schmachvoll zusammenstürzte.