Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Wendung der preußischen Politik. 639 
Leider führte der König sein gutes Werk nicht ganz zu Ende. Ihm 
genügte, daß er den Bruch mit Preußens natürlichem Bundesgenossen 
abgewendet hatte; das Weitere überließ er, nach seiner schüchternen Weise, 
dem Staatskanzler. Die Monarchen waren in jenem Gespräche nur 
über zwei Punkte übereingekommen: der König wollte, da ihm der Czar 
abermals den Besitz von Sachsen verbürgte, der polnischen Königskrone 
Alexander's nicht mehr widersprechen, und er verwarf die von Oesterreich 
und England verlangte Weichselgrenze als eine übertriebene, für Preußen 
selbst nachtheilige Forderung. Doch über die Zukunft des Landstrichs 
zwischen Warthe und Prosna gingen die Meinungen noch auseinander, 
und es war sicherlich Hardenberg's Pflicht, diese Grenzfrage sogleich durch 
vertrauliche Verhandlungen zu erledigen, alle zwischen Rußland und 
Preußen noch streitigen Punkte aus der Welt zu schaffen, um dann, 
wohl gedeckt durch gegenseitige bindende Verpflichtungen, mit einem ge- 
meinsamen Programm den Westmächten und der Hofburg entgegenzutreten. 
Der bestimmte Befehl des Königs hatte die Lage völlig verändert; der 
Staatskanzler konnte nicht mehr den Vermittler spielen, er mußte Partei 
ergreifen. Angesichts der unwahren Winkelzüge Metternich'’s, der sinnlosen 
Phrasen Castlereagh's, der offenbaren Feindseligkeit Talleyrand's und aller 
kleinen Höfe war Preußen verpflichtet rücksichtslos an seine eigene Siche- 
rung zu denken. Dem heuchlerischen Geschrei über den „Verrath an der 
Sache Europas“ entging man ja doch nicht mehr. 
Außer der von Rußland bereits angebotenen Prosnalinie waren aber 
nur Thorn und die benachbarten Gebiete des alten Deutsch-Ordenslandes 
für Preußen unentbehrlich. Diese wichtige Position an der Weichsel und 
ihr deutsches Hinterland dem großen Vaterlande zurückzugeben blieb aller- 
dings eine unerläßliche Aufgabe der nationalen Politik. Schon auf die 
erste unbestimmte Nachricht von der bevorstehenden Wiedervereinigung spra- 
chen die Aemter Engelsburg und Rheden sofort dem Staatskanzler ihre 
herzliche Freude aus und schilderten beweglich, mit wie „unnennbaren 
Empfindungen"“ sie durch sieben lange Jahre dicht an ihrer Grenze das 
Glück der Preußen gesehen und selber das Joch der fremden Tyrannei 
hätten tragen müssen.)) Die Wiedererwerbung dieser treuen deutschen 
Lande war, wie der Erfolg gezeigt hat, keineswegs unmöglich, obgleich 
Czar Alexander auf das feste Thorn großen Werth legte; man mußte 
nur einen klaren Entschluß fassen, auf die rein polnischen Landstriche 
um Kalisch und Czenstochau verzichten und vor Allem Oesterreichs An- 
sprüche auf Krakau nicht mehr unterstützen. Krakau war, wenn Preußen 
die Stadt erlangen konnte, unschätzbar als Grenzfestung wie als Stapel- 
platz für den oberschlesischen Handel; die alte Pflanzung des deutschen 
Bürgerthums hätte voraussichtlich unter preußischem Scepter bald wieder 
ein deutsches Gepräge empfangen. Aber wie die Dinge lagen, stritten sich 
*) Eingabe an Hardenberg, 5. Novbr. 1814. 
 
	        
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