Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

640 II. 1. Der Wiener Congreß. 
nur Oesterreich und Rußland um den Besitz des Platzes; und warum 
sollte Preußen die österreichische Nachbarschaft der russischen vorziehen oder 
gar die Ansprüche der Hofburg auf Zamosz und die Niederungen der Nida 
unterstützen? Nachdem der König entschieden hatte, war es geboten sofort 
mit Rußland die Grenzfrage in's Reine bringen. 
Hardenberg aber hatte sich schon allzutief eingelassen in die englisch- 
österreichischen Zettelungen; er konnte das Mißtrauen gegen Rußland nicht 
überwinden. Alle seine ehrlichen Hoffnungen für Deutschlands Zukunft 
beruhten auf dem Bündniß der „drei deutschen Großmächte“. Darum 
wollte er auch jetzt noch eine Mittellinie zwischen den beiden Parteien ein- 
halten und schrieb am Tage nach jenem Gespräche (7. November) ver- 
traulich an Castlereagh. Er hütete sich wohl, von dem Befehle des Königs 
etwas zu sagen und erzählte nur, wie er im Verlaufe jener Unterredung 
die Ueberzeugung gewonnen habe, daß man Alexander's polnische Königs- 
krone anerkennen müsse. Für Preußen verlangte er nochmals die Warthe- 
linie und Thorn, für Oesterreich das Land bis zur Nida, Krakau und 
Zamossz, obgleich Metternich selber auf letzteren Platz wenig Werth legte. — 
Es war kaum möglich, ungeschickter zu verfahren. Der Staatskanzler setzte 
sich zwischen zwei Stühle; durch die Anerkennung des Königreichs Polen 
gab er der Hofburg willkommenen Anlaß über Preußens Verrath zu klagen, 
und zugleich stieß er den Czaren vor den Kopf durch die Forderung einer 
Grenze, welche Rußland nicht bewilligen wollte. 
Auch Humboldt fügte sich nur widerstrebend dem Befehle des Königs. 
In einer dritten Denkschrift, vom 9. November, warnte er vor der Gefahr, 
daß Oesterreich durch unser russisches Bündniß in allen deutschen Fragen 
uns verfeindet werde?): „Da diese Verhältnisse für Preußen immer die 
nächsten und wichtigsten bleiben, wird Rußland es dafür nicht entschädigen 
können. Ruhe, Gleichgewicht und Sicherheit lassen sich nicht mehr denken, 
wenn Preußen sich, ohne die gerechtesten und wichtigsten Gründe, von 
seinem natürlichen politischen Systeme, der Verbindung mit Oesterreich, 
Deutschland, England und Holland trennt.“ Immer wieder verbreitet der 
holde Traum des deutschen Dualismus seinen Dunstkreis um die Köpfe 
der preußischen Staatsmänner. Auch ein sehr sonderbarer Grund wird 
von Humboldt's überscharfem Geiste für Hardenberg's Politik herangezogen: 
der Umstand nämlich, daß die beiden schlimmsten Feinde Preußens und 
des europäischen Friedens, Frankreich und Baiern, ebenfalls gegen Ruß- 
land kämpfen; daraus folgt nicht, wie gewöhnliche Menschen vermuthen 
werden, daß Preußen, mit diesen Feinden verbündet, höchstwahrscheinlich 
frevelhaft betrogen würde, sondern umgekehrt, daß „Frankreich und Baiern 
alles Interesse dabei verlieren, sobald Preußen auf die Seite tritt, auf 
welche sie sich in Absicht der polnischen Angelegenheit stellen!“ 
  
*) Humboldt's Denkschrift über die polnische Frage, 9. Nov. 1814.
	        
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