Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

716 II. 2. Belle Alliance. 
Prunk der Kammerverhandlungen, an der lauten Kritik der freien Presse. 
Die constitutionelle Doctrin fand wieder ehrliche, überzeugte Bekenner. 
Tausende glaubten treuherzig, es sei die Bestimmung dieses Volkes der 
Freiheit, die englische Parlamentsherrschaft mit dem unantastbaren napo— 
leonischen Verwaltungsdespotismus zu verquicken und also den constitutio— 
nellen Musterstaat zu begründen; die Verwirklichung dieser Ideale schien 
aber leichter möglich unter der schwachen Krone der Bourbonen als unter 
der eisernen Herrschaft des Soldatenkaisers. So geschah es, daß die 
Gebildeten und Besitzenden sich dem Imperator argwöhnisch fern hielten; 
der Curs der Rente sank in wenigen Tagen bis auf 53. Anhänglichkeit 
an das königliche Haus zeigten freilich nur einzelne Striche des Südens 
und Westens; selbst der legitimistische Aufstand, der in der Vendee aus— 
brach, war ungefährlich, da er mehr von dem Adel als von den Bauern 
ausging. Die Rückkehr Napoleon's erfolgte zu früh; einige Jahre später, 
da die Erinnerung an die Schrecken der Kriegszeit schon mehr verblaßt 
und der Groll gegen die Emigranten noch mächtiger angewachsen war, 
hätte sie vielleicht Erfolg haben können. Wie jetzt die Dinge lagen ver— 
hielt sich die Mehrheit der Nation skeptisch, ängstlich, verlegen. Nur die 
Bauern in den allezeit kriegerischen Ostprovinzen und die Arbeitermassen 
einiger großen Städte hießen den gekrönten Plebejer willkommen. In den 
Vorstädten von Paris that sich eine Föderation zusammen, aber die 
jacobinischen Erinnerungen, die hier wieder auflebten, hatten mit dem 
Cäsarencultus des Heeres wenig gemein. 
Napoleon bemerkte schnell, wie sehr das Land sich verwandelt hatte; 
die Bourbonen, sagte er ingrimmig, haben mir Frankreich sehr verdor- 
ben. Um die Mittelklassen zu gewinnen mußte er mit den liberalen 
Ideen liebäugeln: „das Genie hat gegen das Jahrhundert gekämpft, das 
Jahrhundert hat gesiegt!“ In geschickten Manifesten stellte er sich als den 
Erwählten des Volkes dar und hob den popularen Charakter des Kaiser- 
reichs hervor, das die Demokratie disciplinirt, die Gleichheit vollendet und 
die Freiheit vorbereitet habe. Doch Verheißungen genügten längst nicht 
mehr. Er sah sich genöthigt ein Cabinet aus Männern der Revolution zu 
bilden und die Verfassung des Kaiserreichs durch eine Zusatzacte zu ergän- 
zen, welche der Nation eine gewählte Volksvertretung, die Preßfreiheit, das 
Petitionsrecht, ja sogar eine Beschränkung der militärischen Gerichtsbarkeit 
gewährte. So mußte er sich selber die Hände binden, in einem Augen- 
blicke, da nur eine schrankenlose Dictatur die friedenslustige Nation zu 
starker kriegerischer Anstrengung zwingen konnte. In Tricots und antikem 
Mantel zog er dann auf das Maifeld hinaus um die Schaulust der 
Pariser durch ein großes volksthümlich-militärisches Spektakelstück zu be- 
friedigen und öffentlich sein demokratisches Glaubensbekenntniß abzulegen: 
„als Kaiser, als Consul, als Soldat verdanke ich Alles dem Volkel!“ 
Seine Lieblingstochter Hortensia und ihr kleiner Sohn Ludwig wohnten
	        
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