Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

186 II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates. 
Und der freie Geist allerdings blieb dem Greise bis zum Ende. Wie 
er einst unter dem Drucke der Fremdherrschaft den Gedanken der Be— 
freiung des Vaterlandes unwandelbar festgehalten hatte, so verfolgte er 
nunmehr unausgesetzt den Plan, das Werk der inneren Reform durch die 
verheißene reichsständische Verfassung zu krönen; dies sollte sein politisches 
Vermächtnis, der Abschluß seiner langen Laufbahn werden. Im perfön- 
lichen Verkehre bewährte er noch immer seine bestrickende Liebenswürdigkeit 
und zeigte eine so jugendliche Begeisterung für alles Schöne und Große, 
ging so geistreich und liebevoll auf jeden neuen Gedanken ein, daß selbst 
strenge Richter, wie Gneisenau und Clausewitz trotz mancher Mißbellig- 
keiten dem hochverdienten Manne nicht gram werden konnten. Das feste 
Handeln aber war ihm schon in rüstigeren Tagen nicht immer gelungen; 
jetzt da er alternd sich festklammerte an sein hohes Amt, fand er nur noch 
selten den Mut seinen Feinden die freie Stirn zu zeigen und glaubte 
oft selber zu leiten wenn die Gegner ihn mißbrauchten. Die diktatorische 
Macht des Staatskanzlers hatte wohltätig gewirkt, so lange er selbst noch 
alle Ministerien bis auf zwei in seiner Hand vereinigte; seit er nur noch 
die auswärtigen Angelegenheiten unmittelbar leitete und fünf Fachminister 
unter ihm standen, geriet er allmählich in eine ebenso unhaltbare Mittel- 
stellung wie einst die vortragenden Kabinettsräte. Streitigkeiten mit den 
Ministern, Klagen über die Verschleppung der Geschäfte konnten nicht aus- 
bleiben, da — außer Boyen, Witzleben und dem Kabinettsrat Albrecht — 
der Staatskanzler allein dem Monarchen regelmäßig Vortrag hielt und 
gleichwohl von den Ministern forderte, daß sie die volle Verantwortlichkeit 
für ihre Verwaltung übernähmen. 
Nur Unkenntnis und Tadelsucht beschuldigten den greisen Staats- 
mann der Trägheit; alle Eingeweihten wußten, welche Unzahl von Denk- 
schriften und Randbemerkungen, Verfügungen und Berichten diese rasche 
Feder, immer geistreich und gewandt, auf das Papier warf. Aber auf 
pünktliche Ordnung hatte er sich nie verstanden, und die Last dieser das 
gesamte Staatsleben umfassenden Tätigkeit ward nach der Vergröße- 
rung des Staatsgebietes auch seinen Schultern zu schwer. Dringende 
Arbeiten blieben oft monatelang liegen, wenn der Fürst sich in seinem 
Schlosse zu Glienicke vergrub und dann ruckweise, nach Zufall und Laune, 
dies oder jenes Stück von seinen Aktenbergen abhob. Wer dort am träu- 
merischen Havelsee den schönen Park durchwanderte oder auf dem Dota- 
tionsgute Neuhardenberg in der Neumark die gewählte Kunstsammlung 
und die neue von Schinkel erbaute Kirche betrachtete, der fühlte wohl, daß 
ein edler, hochgebildeter Geist hier waltete. Aber welch ein Argernis, 
wenn man die freche Gesellschaft musterte, die sich in diesen vornehmen 
Räumen umhertrieb und den großmütigen Hausherrn an seinem eigenen 
reichen Tische verhöhnte: die klatschsüchtigen Literaten Schöll und Dorow, 
die magnetischen Arzte Koreff und Wohlfart, die Somnambüle Friederike
	        
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