Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Die welfische Erbfolgefrage. 113 
den Übergang der Herzogskrone an den jüngeren Bruder. Und nun 
faßte sich auch der junge Welfe selbst ein Herz und erklärte dem hannö— 
verschen Minister Stralenheim in hellem Zorne: im Namen Karls könne 
er nicht regieren; er wolle auch nicht in die Lage kommen, etwa für einen 
minderjährigen Sohn seines Bruders die Vormundschaft zu führen, um 
dann vielleicht den gleichen Undank zu erleben wie einst König Georg IV. 
und sein Alter in Elend und Sorge zu verbringen.“) Diese Sprache 
verfehlte in London ihre Wirkung nicht ganz. Legte der junge Welfe die 
Regentschaft nieder, so mußte der König von Hannover als nächster Agnat 
sie übernehmen, und solche Aussichten erschienen seinen Räten, nach den 
bitteren Erfahrungen früherer Jahre, sehr unheimlich. Daher sprach sich 
Graf Münster jetzt für Herzog Wilhelms Ansicht aus: der junge Herr 
habe auch eine Stimme und könne zur Fortführung der Regentschaft 
nicht gezwungen werden.) Nur König Wilhelm IV. wollte seine Rechts- 
bedenken nicht aufgeben; das ungestüme Drängen der Braunschweiger 
verletzte seinen Welfenstolz, und er schrieb dem Neffen: „Die Form, ob 
Sie in eigenem oder in Ihres Herrn Bruders Namen regieren würden, 
schien mir von weniger Wichtigkeit zu sein, und ich gestehe Euer Liebden 
unverhohlen, daß die dasigen Untertanen sich zu viel herausnehmen 
würden, wenn sie sich dem Gebrauche von Formen sich zu widersetzen das 
Ansehen geben würden, welche das Völker= und Fürstenrecht geheiligt 
hat.““"") 
Hinter allen diesen Bedenken stand als schwerstes die Frage der Erb- 
folge, die bei freiwilligem Verzichte des Herzogs Karl sich leicht lösen ließ, 
jetzt aber ganz unentwirrbar schien. Wurde dem jüngeren Bruder die 
Herzogskrone übertragen und dennoch den Nachkommen des älteren, nach 
der ursprünglichen Absicht aller Agnaten, das Erbfolgerecht vorbehalten, 
so war mit Sicherheit vorauszusehen, daß Karl, wie vormals Anton 
Ulrich von Meiningen, aus Boshbeit sofort heiratete und eine furchtbare 
Schar rechtmäßiger Erben erzeugte; eine ebenbürtige Gemahlin aus einem 
kleinen mediatisierten Hause hätte sich leicht gefunden. Sollte dann Herzog 
Wilhelm gehalten sein, die Krone zu Gunsten eines Neffen niederzulegen? 
Fast noch gefährlicher schien es, den Mannsstamm des jüngeren Bruders 
kurzweg zur Thronfolge zu berufen. Die Reichsacht alter Zeiten hatte 
zwar regelmäßig der ungeborenen Nachkommenschaft des Achters ihre 
Erbansprüche genommen; aber wie durften die Agnaten eines souveränen 
Bundesfürsten sich eine solche Strafgewalt anmaßen? Bedenken also und 
Zweifel überall. Das Bundesrecht gab keine Antwort; ohne die Majestät 
*) Stralenheim an Münster, Braunschweig 5. Dezember. Reden an Bernstorff, 
28. Dezember 1830. 
**) Münster an Stralenheim, 7. Dez., an Reden, 17. Dez., an die Gesandtschaften 
in Wien, Berlin, Frankfurt, 17. Dez. 1830. 
*“#) König Wilhelm IV. an Herzog Wilhelm, 23. Dez. 1830. 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 8 
 
	        
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