Die welfische Erbfolgefrage. 113
den Übergang der Herzogskrone an den jüngeren Bruder. Und nun
faßte sich auch der junge Welfe selbst ein Herz und erklärte dem hannö—
verschen Minister Stralenheim in hellem Zorne: im Namen Karls könne
er nicht regieren; er wolle auch nicht in die Lage kommen, etwa für einen
minderjährigen Sohn seines Bruders die Vormundschaft zu führen, um
dann vielleicht den gleichen Undank zu erleben wie einst König Georg IV.
und sein Alter in Elend und Sorge zu verbringen.“) Diese Sprache
verfehlte in London ihre Wirkung nicht ganz. Legte der junge Welfe die
Regentschaft nieder, so mußte der König von Hannover als nächster Agnat
sie übernehmen, und solche Aussichten erschienen seinen Räten, nach den
bitteren Erfahrungen früherer Jahre, sehr unheimlich. Daher sprach sich
Graf Münster jetzt für Herzog Wilhelms Ansicht aus: der junge Herr
habe auch eine Stimme und könne zur Fortführung der Regentschaft
nicht gezwungen werden.) Nur König Wilhelm IV. wollte seine Rechts-
bedenken nicht aufgeben; das ungestüme Drängen der Braunschweiger
verletzte seinen Welfenstolz, und er schrieb dem Neffen: „Die Form, ob
Sie in eigenem oder in Ihres Herrn Bruders Namen regieren würden,
schien mir von weniger Wichtigkeit zu sein, und ich gestehe Euer Liebden
unverhohlen, daß die dasigen Untertanen sich zu viel herausnehmen
würden, wenn sie sich dem Gebrauche von Formen sich zu widersetzen das
Ansehen geben würden, welche das Völker= und Fürstenrecht geheiligt
hat.““"")
Hinter allen diesen Bedenken stand als schwerstes die Frage der Erb-
folge, die bei freiwilligem Verzichte des Herzogs Karl sich leicht lösen ließ,
jetzt aber ganz unentwirrbar schien. Wurde dem jüngeren Bruder die
Herzogskrone übertragen und dennoch den Nachkommen des älteren, nach
der ursprünglichen Absicht aller Agnaten, das Erbfolgerecht vorbehalten,
so war mit Sicherheit vorauszusehen, daß Karl, wie vormals Anton
Ulrich von Meiningen, aus Boshbeit sofort heiratete und eine furchtbare
Schar rechtmäßiger Erben erzeugte; eine ebenbürtige Gemahlin aus einem
kleinen mediatisierten Hause hätte sich leicht gefunden. Sollte dann Herzog
Wilhelm gehalten sein, die Krone zu Gunsten eines Neffen niederzulegen?
Fast noch gefährlicher schien es, den Mannsstamm des jüngeren Bruders
kurzweg zur Thronfolge zu berufen. Die Reichsacht alter Zeiten hatte
zwar regelmäßig der ungeborenen Nachkommenschaft des Achters ihre
Erbansprüche genommen; aber wie durften die Agnaten eines souveränen
Bundesfürsten sich eine solche Strafgewalt anmaßen? Bedenken also und
Zweifel überall. Das Bundesrecht gab keine Antwort; ohne die Majestät
*) Stralenheim an Münster, Braunschweig 5. Dezember. Reden an Bernstorff,
28. Dezember 1830.
**) Münster an Stralenheim, 7. Dez., an Reden, 17. Dez., an die Gesandtschaften
in Wien, Berlin, Frankfurt, 17. Dez. 1830.
*“#) König Wilhelm IV. an Herzog Wilhelm, 23. Dez. 1830.
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 8