Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

132 IV. 2. Die konstitutionelle Bewegung in Norddeutschland. 
entscheidend“ — und warf sofort die Frage auf: „Wie muß eine Ver— 
fassung überhaupt beschaffen sein, um den durch Vernunft und Geschichte 
gleichmäßig begründeten Anforderungen der Zeit zu entsprechen?“ In 
einem regelrechten Kathedervortrage zählte er sodann, mit 1 und 2, mit 
a und b, alle die notwendigen „Garantien des verfassungsmäßigen 
Volkslebens“ her. Da prangten wie die aufgespießten Käfer einer In— 
sektensammlung nebeneinander: zuerst die Volkserziehung, die sittliche 
und die politische — denn „die wahre Volksaufklärung gilt mit Recht 
ebenso für eine Hauptstütze des monarchischen Freistaates, wie die Un- 
wissenheit und Stupidität des Volks für eine Grundlage der Despotie“ 
— sodann „die Sprech= und Preßfreiheit, d. i. die Publizität“, ferner 
eine unabhängige Gemeindeverfassung und eine kräftige Volksvertretung, 
endlich „die Nationalbewaffnung der Landwehr“ — denn „der Geist einer 
Soldateska ist schon an sich von dem Geiste des Volks völlig verschieden“ 
und muß, wenn das stehende Heer nicht aufgehoben werden kann, min- 
destens durch kurze Dienstzeit und häufige Beurlaubungen gemildert werden. 
Nach diesen Grundsätzen wollte Jordan die Vorschläge der Regierung be- 
urteilt sehen: „richtige Prinzipien sind auch hier wie überall die Haupt- 
sache.“ 
Der wunderliche Vortrag machte auf die Hörer tiefen Eindruck; denn 
er verkündete mit ehrlicher Begeisterung, mit einer Zuversicht, als ob ein 
Zweifel gar nicht möglich sei, alle die Glaubenssätze des vernunftrecht- 
lichen Katechismus, welche den deutschen Liberalen heilig waren, und 
hinter den doktrinären Gemeinplätzen verbarg sich ein praktischer, nach 
den trüben Erfahrungen der kurhessischen Geschichte nur allzu berechtigter 
Gedanke: die Absicht beständiger Verteidigung gegen fürstliche Über- 
griffe. Jordan dachte seinen monarchischen Freistaat also einzurichten, 
daß die Regierung von den Vorschriften der Verfassung unmöglich ab- 
weichen könnte, und da die Landstände allesamt, trotz ihrer unerschütter- 
lichen dynastischen Treue, den Argwohn gegen den Kurfürsten teilten, 
so wurde der Verfassungsentwurf völlig umgestaltet. Der Marburger 
Professor behauptete dabei die unbestrittene Leitung. In seinen Kollegien- 
heften standen alle die Paragraphen, welche ein Volk frei und glücklich 
machen können, längst säuberlich aufgezeichnet; für jeden Herzenswunsch 
der öffentlichen Meinung fand er sofort den vernunftrechtlichen Ausdruck, 
und diese Fertigkeit des hastigen Formulierens, die in unerfahrenen Par- 
lamenten immer überschätzt wird, verschaffte ihm den Ruf staatsmännischer 
Weisheit. So gelangten die Verhandlungen rasch zum Ziele; man wußte, 
was man wollte, und für unnütze Redekünste bot dieser Landtag, der noch 
geheim tagte, keinen Raum. Schon am 5. Januar 1831 ward die neue 
Verfassung vom Kurfürsten unterzeichnet — eines der denkwürdigsten 
deutschen Grundgesetze, bedeutsam nicht bloß durch seine stürmischen Schick- 
sale, sondern auch durch seinen Inhalt; denn nirgends sonst zeigte sich
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.