Ernst August und Schele. 649
Wie die neue Verfassung beschaffen sein sollte? — das wußte er
selbst noch nicht, da er sich um das Land nie bekümmert hatte; genug,
wenn sie die Macht der Krone befestigte. Ein anderes Recht außer der
Satzung seines eigenen Willens erkannte der Welfe nicht an. Gegen die
Verfassungsgesetze von 1814 und 1819 hatte er protestiert — allerdings
nur heimtückisch, in der Tasche; das Staatsgrundgesetz hatte er nicht
förmlich angenommen. Folglich hielt er sich an die Gesetze seiner Vor-
fahren nicht gebunden und rüstete sich wohlgemut zu einem Staatsstreiche,
dessen Frechheit durch keinerlei Notstand beschönigt werden konnte. Wenn
der neue König seiner Pflicht gemäß die zu Recht bestehende Verfassung
beschwor, dann mochte er fast alle seine Wünsche auf gesetzlichem Wege
durchsetzen. Das Staatsgrundgesetz bestand erst seit vier Jahren und
hatte noch keine tiefen Wurzeln geschlagen; nicht bloß der Adel murrte,
auch das Volk fand wenig Freude an den langweiligen, unfruchtbaren
Landtagsverhandlungen. Die durchaus ergebene erste und die sehr nach-
giebige zweite Kammer ließ sich zu einigen Verfassungsänderungen sicherlich
leicht bewegen, und sobald erst ruhig verhandelt wurde, dann mußte der
geschäftskluge Welfe bald selbst einsehen, daß die Vereinigung der Steuer-
kasse mit der Domänenkasse, die er jetzt als eine demagogische Neuerung
verwünschte, nur der Krone selbst Vorteile brachte. Ihn aber verblendete
die Leidenschaft. Er hatte durch Schele, den Führer der Adelspartei, Wun-
derdinge gehört über den Radikalismus des Staatsgrundgesetzes, das in
Wahrheit die Rechte des Königtums sorgsamer schonte als irgendeine
andere der neuen deutschen Verfassungen, und nannte deshalb den Ka-
binettsrat Rose den hannöverschen John Russell. Wie er die englischen
Reformer bekämpft hatte, so hoffte er in Hannover „der Demokratie die
Flügel zu beschneiden“; und — seltsam genug — bei dem rohen Rechts-
bruche wirkte auch die bornierte Gewissenhaftigkeit mit. Nach seiner Auf-
fassung des politischen Eides konnte Ernst August das Staatsgrundgesetz
nicht beschwören, weil er sich dann verpflichtet geglaubt hätte, keinen Buch-
staben mehr daran zu ändern. Um sein eigenes Gewissen zu sichern, hielt
er sich berechtigt, die Gewissen seiner Untertanen zu bedrängen. Also
stürmte er blindlings hinein in die Bahn des Unrechts — denn ich bin
ein Bock, so gestand er selbst — und getröstete sich des altenglischen Glau-
bens, daß die Deutschen zwar die besten Soldaten der Welt seien, aber
von ihren Fürsten alles gelassen hinnähmen.
Drei Tage vor seiner Ankunft schritt die Bürgerschaft von Hannover
abends in langem, schweigendem Zuge hinaus nach dem Schlosse Mont-
brillant, um von dem geliebten Herzog von Cambridge Abschied zu nehmen.
Ihrem Wortführer, dem Bürgermeister Rumann, und dem guten Vizekönige
versagte fast die Stimme; alles fühlte, die gemächliche alte Zeit ging zu
Ende. Am Abend des 28. Juni zog der neue König ein, beantwortete die
Anrede des Bürgermeisters mit kurzen, wenig freundlichen Worten und