Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

22 V. 1. Die frohen Tage der Erwartung. 
erfolgen kann. Dem „pseudo-liberalen Getriebe“ des Beamtentums ebenso 
gründlich abgeneigt wie sein königlicher Herr, behauptete er stolz „den 
höheren Standpunkt, der sich erhebt über die Ansicht vom absoluten 
Staate.*) Er hoffte auf eine große christlich-germanische Monarchie 
— denn ob eine christlich-germanische Republik überhaupt möglich sei, 
schien ihm mindestens zweifelhaft — und so fest hielt ihn in diesen drei— 
ßiger Jahren der Bannkreis der Hallerschen Ideen noch umfangen, daß 
er sogar den Satz wiederholte, die Macht der Krone beruhe auf dem fürst— 
lichen Grundbesitze — eine doktrinäre Behauptung, die in Preußen, wo 
alle Domänen längst dem Staate gehörten, jeden Sinn verlor. 
Trotzdem ward er niemals zum Sklaven einer Theorie; scharfen 
Blickes schaute er in die Welt der Wirklichkeit, stets bereit seine Meinungen 
zu berichtigen. Er erkannte sehr früh — was sich freilich erst nach langen 
wirrenreichen Jahren als wahr erweisen sollte — daß die Herzenssehnsucht 
der Deutschen sich nicht eigentlich auf die konstitutionellen Formen richtete, 
sondern auf wirkliche politische Güter: auf Rechtssicherheit, Nationalität, 
Selbstverwaltung. Auch der soziale Untergrund der politischen Bewegung 
entging ihm nicht. Er sah, wie die Mittelklassen sich zur Herrschaft heran— 
drängten, und meinte, die Liberalen seien nur mächtig, weil sie sich als 
Vertreter des Volks gebärdeten; darum müsse die Krone durch eine 
schöpferische soziale Gesetzgebung beweisen, daß die Massen des Volks nur 
bei ihr Fürsorge und wirksamen Schutz finden könnten. Am schärfsten 
aber — weit richtiger als der König selbst oder irgend einer seiner Freunde 
— urteilte Radowitz über die deutsche Bundespolitik. Da er in der 
römischen Kirche nicht eine bildungsfeindliche Macht, sondern die Vollen— 
dung aller Kultur sah, so konnte er ohne gehässiges Vorurteil die öster— 
reichischen Zustände mit den preußischen vergleichen, und gleichwohl kam 
der strenge Katholik zu dem Schlusse: dies zur Sonne aufstrebende Preußen 
bedürfe des Lichtes, der österreichische Schwamm gedeihe nur im Schatten. 
Die geistlose Unfruchtbarkeit der in so mannigfache europäische Interessen 
verflochtenen und darum der deutschen Nation entfremdeten Wiener Politik 
durchschaute er ebenso scharfsinnig, wie die oberflächliche Halbbildung der 
österreichischen Völker, die dem platten Josephinismus und der liberalen 
Phrase gar kein Gegengewicht zu bieten hätten. Stolz hielt er diesem ver— 
sumpften Leben die gesunde, kerndeutsche Kraft des preußischen Volkes und 
Staates entgegen. Schon vor dem Thronwechsel (1839) sprach er aus, 
Preußen allein könne die Führung der Nation übernehmen, Deutschlands 
Fürsten und Völker müßten lernen, in Berlin die Verteidigung ihrer Rechte 
und Interessen zu suchen. Darum verlangte er Fortbildung des Zollvereins 
und vor allem Schutz der Rechte aller Deutschen durch die Krone Preußen 
— eine heilige Pflicht, welche leider in den hannoverschen Verfassungs— 
  
*) Radowitz an den König, 23. Juni 1844.
	        
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