Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

480 V. 6. Wachstum und Siechtum der Volkswirtschaft. 
selber einigermaßen behaupten konnte. Er begann, da der Grundbesitz 
nicht mehr genug abwarf, an Eisenbahnen, Banken, industriellen Unter- 
nehmungen aller Art teilzunehmen, und nicht lange, so betrieb der Sohn 
des Herzogs von Argyll, ohne Argernis zu erregen, eine einträgliche 
Weinhandlung. Die alten Ehrbegriffe und Vorurteile des Standes zer- 
stoben vor der Übermacht des Geldes, derweil der deutsche Adel arm, aber 
ritterlich blieb. Kaufmännische Luft durchwehte das gesamte Leben der 
Nation. Das unentbehrliche letzte Notmittel gegen die Verwilderung der 
Gesellschaft, das Duell kam außer Brauch und verschwand bald gänzlich; 
die Reitpeitsche verdrängte Degen und Pistole, und dieser Sieg der 
Roheit ward als ein Triumph der Aufklärung gefeiert. Bei aristokratischen 
Hochzeiten zählten die Zeitungen in einem genauen Konto sorgfältig auf, 
wic viel jeder Hochzeitsgast an Geschenken oder barem Gelde gespendet 
hatte; selbst die Jugend betrieb ihren Sport als Geschäft und lämpfte 
um wertvolle Preise, während die deutschen Studenten sich um der wirk- 
lichen oder vermeintlichen Ehre willen ihre Gesichter zerfetzten. Die Kluft 
zwischen den deutschen und den britischen Sitten erweiterte sich mehr und 
mehr. Was die Puritaner von Shakespeares fröhlichem altem England 
noch übrig gelassen hatten, ging nunmehr völlig unter in der Prosa des 
Geschäftslebens. Demgemäß wurde fortan auch die Haltung des Insel- 
reichs in der Staatengesellschaft noch mehr als bisher durch die Berech- 
nungen der Handelspolitik bestimmt. 
Der Umschwung in England erfüllte die Freihändler aller Länder 
mit Siegeszuversicht, ihre Lehren behaupteten während der nächsten zwei 
Jahrzehnte fast überall in der gesitteten Welt die Oberhand. Alle die 
neuen Erfindungen, deren das Jahrhundert sich rühmte, wirkten als völ- 
kerverbindende Mächte; sie durch Zollschranken zu hemmen, schien fast un- 
vernünftig. Es begann eine lange Zeit wechselseitiger Handelserleichte- 
rungen und sie förderte den Wohlstand. Nachher zeigte sich doch wieder, 
wie viel mehr der innere Markt bedeutet als der Weltverkehr; die Völker 
des Kontinents erfuhren, daß der freie Wettbewerb die Übermacht des 
Starken nicht ausgleicht, sondern erhöht, und die halbverschollenen Ideen 
Lists gewannen neues Ansehen. Zunächst folgte Nordamerika dem Bei- 
spiel Englands und erniedrigte einen Teil seiner Zölle. 
Deutschland hatte einst, als unsere Industrie noch in den Windeln lag, 
aus den britischen Kornzöllen Vorteil gezogen, denn sie verhinderten uns 
damals, mit dem übermächtigen Inselreiche gefährliche Verträge zu schließen; 
jetzt lasteten sie längst schon schwer auf dem deutschen Ackerbau und Getreide- 
handel. Ihre Aufhebung wurde also überall in Norddeutschland freudig 
begrüßt. Die Berliner Finanzpartei vernahm mit begreiflicher Genug- 
tuung, daß England endlich nachholte, was Preußen schon vor achtund- 
zwanzig Jahren gewagt hatte. Und wie liebenswert erschien den Deutschen 
Peels bürgerlich ehrenfestes Wesen; gerade seine stolze Selbständigkeit, die
	        
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