Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

740 V. 10. Vorboten der europäischen Revolution. 
Eindrücke, welche Radowitz in Paris empfing freilich nicht überein. Die 
preußische Gesandtschaft, Heinrich Arnim so gut wie sein erster Rat Graf 
Hatzfeldt, beobachtete mit Entsetzen, wie verblendet dies tugendstolze und 
tugendlose Regiment alle Zeichen der Zeit mißachtete. Die lärmenden 
Reformbankette der Radikalen bekundeten laut den Groll der unvertretenen 
Volksklassen gegen das allein herrschende pays légal; der schmähliche 
Fall des Ministers Teste, die Ermordung der Herzogin von Praslin und 
so viele andere Skandäle in der vornehmen Welt bezeugten, wie tief diese 
Herrschaft des Geldbeutels schon in ihren sittlichen Grundlagen zerfressen 
war. In der Kammer sprach Alexis v. Tocqueville das Kassandra-Wort: 
Sehen Sie denn nicht, daß die politischen Leidenschaften sozial geworden 
sind? wir schlafen auf einem Vulkane! Angesichts solcher Anzeichen sagte 
Guizot erhaben: Es gibt hier nur zwei wichtige Dinge: freie Vollmacht 
von seiten des Königs und die Stimmkugeln der Kammer. Ich habe 
beides, und wenn man sich draußen den Kugeln der Kammer nicht unter— 
wirft, so habe ich Kartätschen, um ihren Entscheidungen Achtung zu ver— 
schaffen. Und im Tone vollendeter Selbstgewißheit gab er den Preußen 
die gute Lehre: sie müßten, nachdem sie den Vereinigten Landtag ge— 
schaffen, nunmehr als Gegengewicht das Präfektursystem einführen; ihre 
kollegialischen Regierungsbehörden seien zu langsam und zu unabhängig.“) 
Ebenso verblendet zeigte sich der Bürgerkönig selbst. Eines Tages wies 
er dem preußischen Gesandten wohlgefällig den Plan von Paris vor: wie 
die Stadt von den neuen Forts so gänzlich eingeschlossen sei; beim 
Straßenkampfe müsse die Nationalgarde vorangehen; zeige sie sich un- 
zuverlässig, so würde sie von den nachfolgenden Linientruppen nieder- 
geschossen. Arnim dachte im stillen: wenn diese ruchlos zuversichtliche 
Regierung dauert, dann lebt kein Gott im Himmel mehr! Er verglich 
dies ideenlose, allein auf die scheinbare Gesetzlichkeit des Jahres 1830 
und auf die bewaffnete Macht gestützte Regiment einer verdorbenen 
Uhr, deren Schlüssel verloren gegangen sei.) 
Ahnlicher Befürchtungen konnte auch Radowitz sich nicht enthalten. 
Indessen wurde am 18. Jan. 1848 von Frankreich, Preußen und Oster- 
reich eine gemeinsame Note unterzeichnet, welche die Eidgenossen auffor- 
derte, die Sonderbundskantone zu räumen und deren Unabhängigkeit an- 
zuerkennen — was im wesentlichen schon geschehen war. Sodann ver- 
langten die Mächte, eine Veränderung der Bundesverfassung dürfe nur 
durch einstimmigen Beschluß erfolgen. Was wollte diese Forderung jetzt 
noch bedeuten? Der Radikalismus herrschte ja schon in der Tagsatzung, 
und außer Neuenburg besaß nur noch der konservative Halbkanton Basel- 
Stadt den Mut, der siegreichen Partei zu widersprechen. Das ver- 
  
*) Hatzfelds Berichte an Canitz, 21. Juli 1847. 
**) H. v. Arnims Bericht, 13. Febr. 1848.
	        
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