68 V. 2. Die Kriegsgefahr.
Ostens in seiner Hand zu haben; er nannte mit gewohnter Ruhmredig-
keit diese Tat einen der größten diplomatischen Erfolge seines Lebens
und schmeichelte sich mit der Hoffnung, nunmehr würde unter seiner
Leitung ein europäischer Kongreß in Wien zusammentreten, der die orien-
talischen Händel, natürlich zum Nachteil Mehemed Alis, beilegen sollte.)
Anders dachte der König von Preußen. Er sah klar voraus, daß
diese scheinbare Einigung Europas die Hintergedanken Rußlands, das
Zerwürfnis zwischen den Westmächten sehr bald an den Tag bringen,
vielleicht gar den allgemeinen Krieg hervorrufen mußte. Argerlich meinte
er, die Mächte hätten besser getan, sich nicht zu übereilen, sondern dem
Sultan die Verständigung mit dem Pascha zu überlassen.**) Weil er auf
seine alten Tage keinenfalls den Frieden brechen, seinem Volke um dieser
entlegenen Händel willen weder Subsidienzahlungen noch Kriegslasten
auflegen wollte, so ließ er den großen Höfen mehrmals auf das bestimm-
teste erklären: Preußen gewähre den Versuchen zur friedlichen Lösung der
orientalischen Frage nur seinen moralischen Beistand (appui moral) und
behalte sich die strengste Neutralität vor, falls die unmittelbar beteiligten
Mächte zu den Waffen greifen sollten.*) Er hatte recht geahnt. Die
Absichten der beiden Westmächte zeigten sich sofort als unvereinbar. Während
Frankreich seinen ägyptischen Schützling schonen wollte, beabsichtigte Pal-
merston den Sieger von Nisib für seinen Sieg zu bestrafen, ihn durch
ein salomonisches Urteil Europas eines guten Teiles seiner alten Be-
sitzungen zu berauben.
Auch die Pforte blieb, trotz ihrer Schwäche, unversöhnlich und er-
fand jetzt ein neues, sehr wirksames Kampfmittel wider Mehemed Ali.
Der Minister des Auswärtigen Reschid Pascha hatte als Gesandter in
London die Macht der Presse des Abendlandes kennen gelernt und als-
bald begriffen, welchen Vorteil dem Agypter die brünstigen Lobeser-
hebungen der französischen und vieler anderen liberalen Zeitungen ge-
währten. Er riet daher dem jungen Sultan, durch ein feierliches
Schauspiel den Europäern zu bekunden, daß der Großherr noch weit
liberaler denke als der aufgeklärte Despot am Nil. Am 2. Nov. versam-
melten sich die Großwürdenträger des Reichs und die Notabeln der Haupt-
stadt in einem Hofe des alten Serails vor dem Kiosk von Gülhane,
nahe jener alten Platane, in deren Schatten einst die meuterischen Janit-
scharen zu beraten pflegten. Sobald der Hofastrolog mit seinem Astro-
labium den günstigen Augenblick erkundet hatte, wurde der Hattischerif
von Gülhane verlesen, eine mit alttürkischem und neufränkischem Wort-
*) Maltzans Berichte, 1. Jan. 1840 ff.
*“) König Friedrich Wilhelm, Randbemerkung zu Maltzans Bericht v. 23. April 1840.
*4*) Bericht von Werther d. J., Geschäftsträger in London, 20. Dez. 1839, mit Rand-
bemerkung des Königs. Minister Werther, Bericht an den König 15. Jan., dessen Weisung
an Werther d. J. 20. Jan. 1840 nebst Randbemerkungen.