Full text: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Zweiter Band. (2)

256 Der Feldzug im Osten vom 12. Sept. bis 5. Nov. 1914 
Weichselflanke bezweckt hatte, einzig deshalb das am 9. Oltober zuversichtlich 
höher gesteckte Ziel nicht erreichen, weil sechs Korps nicht genügten, die Russen 
in die Weichsel zu werfen und den Osterreichern eine unbegrenzte Frist zum 
Durchbruch der Sanstellungen zu erstreiten. 
Hindenburg hatte in der Schlacht bei Tannenberg die Überwindung 
des Gegners in dessen Vernichtung gesucht und gefunden. Auch die Schlacht 
an den masurischen Seen war nach diesem Grundsath angelegf. In Polen 
war er nicht stark genug gewesen, dieser elementaren Forderung des Kriegs- 
gottes nachzukommen und die Vorherrschaft des Vernichtungsprinzips im 
ARingen um die Flanken aufs neue zu bestätigen. Er war vielmehr darauf 
angewiesen, vermittelst kleiner, aber besonders geschickt angebrachter Schläge 
eine Lähmung der feindlichen Kräfte zu erreichen, um dem Bundesgenossen 
das Heft fester in die Hand zu drücken. Als die feindliche Abermacht sich 
trohdem nicht bannen ließ, mußte er sich begnügen, den feindlichen Willen 
vom ursprünglichen Wege abzulenken und eigenen künftigen Angriffsabsichten 
dienstbar zu machen. Was das bedeutete, sollte der Russe schon nach wenigen 
DTagen erfahren. 
Als die russische Heeresleitung ihre Massen über die Weichsel führte 
und mit fünf Armeen über das polnische Glacis vorrückte, war dem Groß. 
fürsten die Sammlung der Hauptmacht im Mittelraum als Gegenmaßnahme 
zu Hindenburgs Flankenstoß gelungen, dagegen war Hindenburg die Ab- 
lenkung des feindlichen Willens vom ursprünglichen Ziel in überraschendem 
Maße geglückt. Hindenburgs Vorstoß auf Iwangorod und der im Anschluß 
an diesen Flankenangriff ausgeführte Flankenmarsch auf Warschau haben 
die russische Heeresleitung genötigt, von dem Grundplan abzuweichen, auf 
den von Anbeginn an ihr Feldzug aufgebaut war. Am 3. November war 
die polnische Weichsellinie nicht mehr eine natürliche, künstlich verstärkte 
Verteidigungsstellung, hinter der sich die russischen Armeen gliederten, um 
auf den Flügeln zu operieren, in Osipreußen und Galizien einzufallen 
und sich am San und an der preußischen Weichsel gerade zu ziehen, sondern 
sie wurde zur zurückgebogenen Ausfallstellung, in der sich die russischen 
Armeen ballten, um dem ausweichenden Gegner durch das eisenbahnlose, 
wegarme polnische Westland zu folgen, seine Grenzen durch einen Zentrums- 
stoß aufzureißen und über die zertretenen Armeen himveg den Sih seines 
Lebens zu erreichen. Dadurch haben sie den Verbündeten die strategische 
Aberlegenheit zurückgegeben und sich selber der Aberflügelung und der Am- 
fassung überliefert. 
Die große russische Angriffsbewegung, die sich in den ersten November- 
tagen 1914 zu entwickeln begann, ging also auf die glückliche Bildung der 
Armeemasse in einen zentralen Raum zurück, hat aber im Grunde das bezeich- 
nende wesentliche Merkmal der Handlungsfreiheit von Anfang an nicht besessen, 
sondern vollzog sich auf einer Bahn, die ihr der große Gegner gewiesen hatte.
	        
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