18. Dezember 1914 503
Roß darausetzen, dem Gegner an der Klinge zu bleiben. Es sragt sich, was die
Russen nun nach der Schlacht, die wir als die größte der Weltgeschichte und im
Zusammenhang der taktischen Entscheidung mit der strategischen Operation als
eine der genialsten Kriegshandlungen aller Zeiten betrachten, auf dem Rückzug
noch ein büßen.
Auch bei vorsichtiger Beurteilung der Ergebnisse der Schlacht in Polen und
Galizien, die am 10. November eingeleitet, am 13. November bei Wloclawek die
erste taktische Entscheidung sah und also über einen Monat gedauert hat, wird man
von einem vollständigen Zusammenbruch der entscheidenden russischen Offensive
nach Westen sprechen können. Diese war nach unserer Auffassung schon am 7. De-
zember in der Wurzel geknickt, jetzt ist sie vollständig zusammengebrochen. Ballt
Rußland hinter der Weichsel noch einmal seine Heere zusammen, wozu seine
Menschenmassen es noch lange befähigen, so wird ihnen doch viel an Moral und
Material fehlen, um nochmals mit Aussicht auf Erfolg den nun bereits zweimal
gescheiterten Versuch, den Krieg auf VBerlin und Wien vorzutragen, ins Werk zu
setzen.
Solange wir keinen Einblick in die inneren Verhälenisse des russischen Heeres
haben, bleibe die letzte Schlußfolgerung ausgesegt, ob die russische Generaloffensive
endgültig gebrochen und der russische Feldzug entschieden ist. Entschieden in dem
Sinne, daß Nußland fortan auf die Verteidigung angewiesen ist. Die nächsten
Meldungen von russischer Seite müssen uns darüber aufllären, ob die Russen sich
noch für befähigt halten, den Feldzug von sich aus noch einmal aufzunehmen.
Wo aber blieb in den Tagen, da im Osten die Entscheidung reiste und Russen,
Oeutsche und Osterreicher dort ihr Leytes einseczten, der große, durchgreifende
Angriff der Franzosen und Engländer im Westen? Nur vereinzelt,
nur auf 500 Meter vorgetragen, wurden zwischen Nieuport und Belfort hier eng-
lisch französische Angriffe angeseht. Auch heute meldet der Draht nur Vorstöße
dieser Art, deren Positionsbestimmung wir auf morgen versparen. Ist die Ent-
scheidung im Osten eine endgültige oder wenigstens eine so tiefgreifende, daß die
deutsche Heeresleitung nun ihr Hauptaugenmerk nach Westen lenken kann, so
werden auch hier die nächsten Wochen große Veränderungen bringen. Dabei
wollen wir aber die Widerstandskraft der Verbündeten nicht unterschähen.
Und sollte es ihnen nicht gelingen, in Flandern mit versammelten Kräften durch-
zudringen oder an der Aisne und bei Verdun alles daranzusehzen, so muß man
vielleicht noch mit einer politisch-militärischen Diversion durch die Belforcer Senke
rechnen — jedenfalls wäre es ein Verzicht auf den Versuch, die Handlungsfreiheit
wieder zu erlangen, wenn die englisch-französische Heercsleitung sich auch ferner
darauf beschränkt, ihre befestigte Stellung zu behaupten. Die rein französischen
militärischen Interessen weisen allerdings, wie wir schon oft betonten, den Fran-
zosen eher eine „Reéduit". Stellung weiter südlich an, während die Engländer
die Behauptung der Nordseeküste als Lebensfrage betrachten und diese Auf-
fassung burchgesetzt haben. Die kluge und zähe französische Heeresleitung wird
nun wichtige Beschlüsse zu fassen haben. Vor voreiligen Schlußfolgerungen
möchten wir aber ausdrücklich warnen, denn endgültig läßt sich die Lage heute
noch nicht einmal im Osten bestimmen, geschweige denn im Westen, wo noch
alles in der Schwebe ist.