168 Drittes Buch: Die allgemeinen Funktionen der Staatsgewalt. I. Kapitel. 8 47.
Sonderrechte der vom allgemeinen Landrechte in ihrem Bestande aufrecht erhaltenen Stände
zu verstehen; mit dem Ausdruck die „gemeinen Rechte“ war aber das gemeine Recht bezeichnet,
wie es sich auf Grundlage des römischen und kanonischen Rechts, der deutschen Reichsgesetze u. s. w.
hauptsächlich auf dem Gebiete des Privat-, Straf= und Prozeßrechts, theilweise auch des öffent-
lichen Rechts entwickelt hatte. Insoweit die am Ende des vorigen Jahrhunderts erlassenen Ge-
setzbücher (allgemeines Landrecht, Gerichtsordnung u. s. w.) an die Stelle des gemeinen Rechts
getreten sind, fallen sie auch unter den Begriff der „gemeinen Rechte“!).
Der Begriff des Gesetzes im materiellen Sinne ergab sich hiernach in der Weise, daß
nur die vom Landesherrn in bestimmter Form erlassenen, auf die Sonderrechte und das ge-
meine Recht in dem angegebenen Umfange bezüglichen Rechtsnormen als „Gesetze“ zu be-
trachten waren, für welche nun die Verfassungsurkunde selbst die Art und Weise der Ent-
stehung und Verkündigung neu geregelt hat.
Die Verfassungsurkunde hat aber selbst für eine ganze Anzahl von Gegenständen vor-
geschrieben, daß sie nur durch Gesetz geregelt werden können, obwohl viele diese Gegenstände
weder zu denjenigen gehören, die früher unter den Begriff des Gesetzes fielen, noch auch über-
haupt Rechtsnormen enthalten. Daß die Verfassungsurkunde selbst als formelles Gesetz zu
betrachten ist, obwohl sie keineswegs nach ihrem ganzen Inhalte Gesetz im materiellen Sinne
ist, bedarf keiner Hervorhebung, zumal Art. 107 V. U. ausdrücklich bestimmt hat, daß sie auf
dem Wege der Gesetzgebung, wenn auch unter erschwerten Formen, abgeändert werden kann.
Endlich sind seit dem Erlasse der Verfassungsurkunde eine Anzahl von Gegenständen,
die weder nach den Bestimmungen der Verfassungsurkunde, noch nach dem früheren Rechte durch
Gesetz geregelt werden mußten, durch formelle Gesetze bestimmt worden. Da nun das, was
einmal durch Gesetz geregelt ist, auch nur in derselben Weise aufgehoben oder geändert werden
kann, so fallen auch diese Gegenstände in den Umfang der formellen Gesetzgebung.
Darnach sind als Gegenstände der Gesetzgebung zu betrachten:
1. Alle Gegenstände, welche nach dem zur Zeit des Erlasses der Verfassungsurkunde
geltenden Rechte in der Form des Gesetzes geordnet werden mußten.
2. Das in der Verfassungsurkunde festgestellte Verfassungsrecht und alle Gegenstände,
welche durch Bestimmungen der Verfassungsurkunde der Regelung durch formelles Gesetz über-
wiesen worden sind.
3. Alle Gegenstände, welche durch Gesetz geregelt sind, wenn dies auch rechtlich nicht
nothwendig war.
Ein allgemeines Prinzip läßt sich aus dieser Aufzählung nicht gewinnen, man kann nur
sagen, daß das gesammte Privatrecht, Strafrecht und Prozeßrecht, soweit diese Materien jetzt
nicht in die Zuständigkeit der Reichsgesetzgebung fallen, ferner das gesammte Verfassungsrecht
und der größte Theil des Verwaltungsrechts in das Gebiet der Gesetzgebung fallen.
Daß ein Gegenstand, der an und für sich dem einseitigen Verordnungsrechte der Krone
unterliegt, auch durch Gesetz geregelt werden kann, ist zweifellos und ebenso ist es zweifellos,
daß derselbe durch ein späteres Gesetz wieder der Verordnungsgewalt überwiesen werden kann.
Bestritten ist jedoch, ob bei einem Gegenstande, der nach dem geltenden Verfassungsrechte durch
Gesetz zu regeln ist, durch ein spezielles Gesetz die Regelung der Krone auf dem Wege einseitiger
Verordnung überlassen werden kann. Man wird dies um deswillen annehmen müssen, weil in
1) In der Abgrenzung derjenigen Gegenstände, welche nach dem Allgemeinen Landrecht in der
Form des Gesetzes geregelt werden mußten, tritt genau betrachtet, noch die schon in der Karoling'’schen
Verfassung zum Ausdruck gelangte Auffassung des germanischen Rechts zu Tage, daß die lex terrae
(Privatrecht, Strafrecht und Prozeßrecht) nicht durch Verordnungen abgeändert werden kann, eine solche
Aenderung vielmehr der Zustimmung der Volksgemeinde, bezw. der an ihre Stelle getretenen majores
oder meliores terrae bedürfe. Gneist, Verordnungsrecht in Holtzendorff's Rechtslexikon. III. Aufl.,
3. Bd., S. 1059 ff.