Full text: Handbuch des Öffentlichen Rechts. Band II.3. Das Staatsrecht des Königreichs Preußen. (23)

8 47. Das Gesetz und die Gesetzgebung. 171 
IV. Nach Art. 107 V. U. kann auch die Verfassung selbst „auf dem ordentlichen Wege 
der Gesetzgebung abgeändert werden, wobei in jeder Kammer die gewöhnliche absolute Stimmen- 
mehrheit bei zwei Abstimmungen zwischen welchen ein Zeitraum von wenigstens einundzwanzig 
Tagen liegen muß, genügt.“ Eine Verfassungsänderung liegt in vier Fällen vor: 1. wenn 
eine Bestimmung der Verfassungs-Urkunde aufgehoben wird, ohne daß eine andere Bestimmung 
an ihre Stelle tritt; 2. wenn eine Vorschrift der Verfassungs-Urkunde durch eine neue ersetzt 
wird, die übrigens nicht immer die Bedeutung einer Verfassungsvorschrift haben muß; 3. wenn 
die Verfassung durch neue Vorschriften ergänzt wird, denen ausdrücklich die Eigenschaft von 
Verfassungsgesetzen beigelegt wird; 4. wenn Vorschriften der Verfassung authentisch inter— 
pretirt werden, da die authentische Interpretation eines Gesetzes dieselbe Eigenschaft hat, wie 
das interpretirte Gesetz selbst. 
Selbstverständlicher Weise bilden einen integrirenden Bestandtheil der Verfassungs-Ur— 
kunde auch diejenigen Rechtsvorschriften, auf welche sich die Verfassungs-Urkunde bezieht in dem 
Sinne, daß sie als in die Verfassungs-Urkunde aufgenommen zu betrachten sind, wie z. B. die 
in Art. 53 in Bezug genommenen Vorschriften der Hausgesetze und das in Art. 59 in Bezug 
genommene G. v. 17/1. 1820. Ebenso gehören hierher die nach Erlaß der Verfassungs-Urkunde 
dieselbe abändernden oder ergänzenden Verfassungsgesetze. 
Die Bedeutung des Art. 107 V. U. ist eine doppelte: 1. gegenüber der Verfassungs-Ur- 
kunde und den Verfassungsgesetzen ist der Erlaß von Nothverordnungen auf Grund des Art. 63 
V. U. ausgeschlossen, wie dies auch in Art. 63 selbst gesagt ist; 2. bei Verfassungsgesetzen ist zu 
deren Gültigkeit die Beobachtung der in Art. 107 vorgeschriebenen erschwerenden Form (zwei- 
malige Abstimmung innerhalb der bestimmten Frist) nothwendig. 
Es kommt nicht selten vor, daß eine Abänderung von Verfassungsbestimmungen bei Er- 
laß von neuen mit dem bestehenden Verfassungsrechte in Widerspruch stehenden Gesetzen sich 
als nothwendig erweist. Es ist nun bestritten, ob in einem solchen Falle zunächst die Abände- 
rung der betr. Verfassungsvorschrift durch Spezialgesetz dem mit der Verfassung in Widerspruch 
stehenden Gesetze vorausgehen muß oder ob es genügt, daß bei Erlaß dieses Gesetzes die Form 
der Verfassungsänderung (zweimalige Abstimmung mit einem Zwischenraum von 21 Tagen) 
beobachtet wird. Da die Verfassungs-Urkunde selbst das Erforderniß der ausdrücklichen Ver- 
fassungsänderung nicht aufstellt, sondern lediglich auf den Weg der ordentlichen Gesetzgebung 
verweist, Gesetze aber auch stillschweigend durch spätere Gesetze aufgehoben oder abgeändert 
werden können, so muß es genügen, daß bei einem im Widerspruch mit der Verfassung stehen- 
den Gesetze die Vorschriften des Art. 107 beobachtet worden sind, ohne daß vorher ein Spezial- 
gesetz erlassen wurde. Zweckmäßig ist dies letztere aber allerdings, da sonst es leicht zweifelhaft 
werden kann, ob eine Verfassungsänderung vorliegt. Die bisherige Praxis hat daher auch in 
der Regel an ausdrücklicher Abänderung der Verfassungs-Urkunde festgehalten, eine Ausnahme 
wurde jedoch gemacht bei der Verfassung des Norddeutschen Bundes, welche durch Publikations- 
Patent v. 24/6.1867 (G. S. S. 818) als Gesetz für die preußische Monarchie verkündet wurde. 
V. Privilegien) sind besondere vom gemeinen Rechte abweichende Rechtsnormen, die 
nur für eine Person oder eine Sache oder auch für eine Mehrheit solcher aber nicht ausnahmslos 
und grundsätzlich für alle gleicher Art gegegen werden und die rechtliche Stellung derselben in 
bestimmter Beziehung regeln. Die sog. Privilegienhoheit ist ein Bestandtheil der gesetzgebenden 
Gewalt; die Ertheilung von Privilegien ist daher grundsätzlich nur möglich in der Form des 
Gesetzes, soferne nicht dem Könige oder einer Behörde das Recht zur Ertheilung von Privi- 
legien durch Gesetz eingeräumt ist. (Vgl. z. B. Art. 50 V. U.) 
  
1) Hinschius, Artt. Privilegium und Dispensation in Stengel's Wörterbuch des 
Verw.-Rechts, II, S. 309 ff., 1, S. 277 ff.
	        
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