8 49. Die Prüfung der Rechtsgülttgkeit von Gesetzen und Verordnungen. 175
Vorschriften einer höheren Rechtsordnung im Widerspruch steht. Bezüglich der Verordnungen,
der landesherrlichen, wie der von Behörden erlassenen wird zwar diese Frage im Allgemeinen
bejaht, bezüglich der Gesetze gehen aber die Ansichten sehr auseinander. Ein Anlaß auf diese
Streitfrage hier näher einzugehen, besteht jedoch deshalb nicht, weil die preußische Verfassungs-
urkunde in dieser Beziehung positive Vorschriften enthält. Art. 106 V. U. bestimmt nämlich:
„Gesetze und Verordnungen sind verbindlich, wenn sie in der vom Gesetze vorgeschriebenen
Form bekannt gemacht worden sind. Die Prüfung gehörig verkündeter königlicher Verord-
nungen steht nicht den Behörden, sondern nur der Kammer zu.“
Was nun die Tragweite dieser Bestimmungen anlangt, so ist der zweite Absatz durchaus
unzweideutig und ergiebt sich dieselbe auch aus der Entstehungsgeschichte des Abs. 2 Art. 106.
Derselbe ist erst in Folge der königlichen Botschaft vom 7/1. 1850 in die Verfassungsurkunde
aufgenommen worden. Die Proposition XIII dieser Botschaft hatte nämlich die Aufnahme
folgender Bestimmung verlangt: „Die Rechtsgültigkeit gehörig verkündeter Verordnungen
kann nur von den Kammern zur Erörterung gezogen werden.“ Dies Verlangen war damit
begründet, daß die Grenze zwischen dem Gebiete der Gesetzgebung und dem der Verordnungen,
die die Vollziehung der Gesetze vermitteln, schwer zu ziehen sei. Die Kammern seien berufen,
ihre verfassungsmäßige Rechte auch in dieser Beziehung zu wahren; so lange keine derselben
behaupte, daß durch Erlassung einer Verordnung in das Gebiet der Gesetzgebung eingegriffen
sei, müßten die Gerichte und die anderen Behörden die Verordnung als verfassungsmäßig er-
lassen, um so mehr ansehen, als sonst die drei Faktoren der Gesetzgebung, obgleich sie überein-
stimmend der Ansicht waren, daß eine Verordnung genüge, zur Erlassung eines Gesetzes ge-
nöthigt werden könnten.
Die Möglichkeit, daß bis zum Zusammentritte der Kammern eine Verordnung vollzogen
werden müsse, zu deren Erlassung dieselben ihre Mitwirkung in Anspruch nehmen, sei bei der
Verantwortlichkeit der Minister für Verfassungsverletzungen weit weniger bedenklich als die
Eventualität, daß Verordnungen, welche verfassungsmäßig erlassen sind und als solche dem-
nächst von den Kammern ausdrücklich oder stillschweigend anerkannt werden, von den Behörden
thatsächlich außer Anwendung gesetzt werden. Die Behörden müßten sich von Fragen ferne
halten, die ihrer Natur nach lediglich dem Gebiete der gesetzgebenden Gewalt angehören. Darauf
hin beschlossen die Revisionskammern die Aufnahme der vorgeschlagenen Proposition in der
Fassung des jetzigen Abs. 2 Art. 106, also in Beschränkung auf königliche Verordnungen (Art.
45 und 63), während die Prüfung der Rechtsgültigkeit aller nicht vom Könige selbst erlassener
Verordnungen, den Behörden nicht entzogen ist.
Wenn es hiernach zweifellos ist, daß durch Art. 106 die Prüfung gehörig verkündeter
königlicher Verordnungen den Behörden entzogen werden wollte, so erscheint es dagegen
fraglich, ob durch Art. 106 auch die Prüfung der Rechtsgültigkeit der Gesetze den Behörden
entzogen ist. Man wird die Frage bejahen müssen. Für die Bejahung spricht die Fassung des
Absatzes 1 Art. 106. Indem derselbe bestimmt, daß die Gesetze verbindlich sind, wenn sie in
der vorgeschriebenen Form bekannt gemacht wurden, so sagt er entweder etwas ganz Selbst-
verständliches oder er bestimmt, daß für die Frage der Verbindlichkeit eines Gesetzes lediglich
die gehörig erfolgte Publikation maßgebend ist, eine weitere Prüfung der Rechtsgültigkeit des
Gesetzes aber nicht zulässig erscheint. Da man nun nicht annehmen kann, daß der Gesetzgeber
etwas durchaus Selbstverständliches noch ausdrücklich bestimmt hat, wird man die zweite Alter-
native annehmen müssen. Allerdings hat der Gesetzgeber in Abs. 2 bezüglich der königlichen
Verordnungen das nochmals ausdrücklich hervorgehoben, was nach der hier vertretenen Ansicht
schon in Abs. 1 Art. 106 bestimmt ist, allein bei den Verordnungen lag auch ein besonderer
Anlaß zu einer ausdrücklichen Vorschrift vor. Andererseits wird man aber auch sagen müssen,
daß wenn selbst bei Verordnungen das Prüfungsrecht der Behörden ausgeschlossen ist, das um
so mehr bei Gesetzen gelten müsse, zumal die Begründung der von den Kammern im Princip