§ 55. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit. 211
nehmen (L.V.G. § 113 Abs. 3). Daraus folgt, daß namentlich auch das Oberverwaltungs-
gericht berechtigt und verpflichtet ist, in allen Fällen zu prüfen, ob das zuständige Gericht ent-
schieden hat, auch wenn in dieser Beziehung eine Beschwerde nicht geltend gemacht wurde.
c) Die Parteien. Das preußische Verwaltungsstreitverfahren ist dem Civilverfahren
in der Weise nachgebildet, daß in einer jeden „streitigen Sache“ ein Kläger und ein Beklagter
auftreten muß, namentlich gilt dies auch in denjenigen Fällen, welche von der Theorie und
auch nach manchen Gesetzgebungen als sog. Rechtsbeschwerden bezeichnet werden, d. h. den-
jenigen Sachen, in welchen die Verfügungen öffentlicher Behörden als rechtswidrig und rechts-
verletzend angefochten werden. In diesen Angelegenheiten ist selbstverständlich diejenige phy-
sische oder juristische Person, welche die sie angeblich beschwerende Verfügung beseitigt oder ab-
geändert haben will, Klagspartei, während der Behörde, deren Verfügung angefochten wird,
die Rolle des Beklagten zufällt.
Ausnahmsweise kann eine das öffentliche Interesse vertretende Behörde auch als Klags-
partei auftreten; dies trifft zu: 1. in den wenigen Fällen, in welchen das den vorgesetzten Be-
hörden gegenüber den nachgeordneten zustehende Oberaufsichtsrecht in der Form der Anfecht-
ung durch Verwaltungsklage geltend gemacht wird, vgl. § 126 L. V.G.; 2. in denjenigen Fällen,
in welchen es sich um die Zurücknahme von Approbationen, Konzessionen u. dergl., Schließung
von Hilfskassen u. s. w. aus bestimmten im Gesetze vorgesehenen Gründen handelt und die betr.
Behörde auf Zurücknahme, Entziehung u. s. w. klagen muß (Zust.G. 88 119, 142 u. s. w.).
In diesen Fällen ist selbstverständlich derjenige beklagte Partei, welchem die Konzession u. s. w.
entzogen werden soll.
Im Gegensatz zu den oben charakterisirten Rechtsbeschwerden bezeichnet man mit dem
Ausdrucke „Parteistreitigkeiten“ diejenigen Fälle, in denen zwischen zwei Unterthanen (physi-
schen oder juristischen Personen) über aus dem öffentlichen Rechte sich ergebende Ansprüche oder
Verbindlichkeiten gestritten wird. Nach preußischem Rechte kommen hier hauptsächlich folgende
Fälle in Betracht: Zust.G. §8§ 18, 34 (Streitigkeiten der Betheiligten über ihre im öffentlichen
Rechte begründete Berechtigung und Verpflichtung an den Gemeindenutzungen, bezw. zu den
Gemeindelasten), § 44 (Streitigkeiten zwischen den betheiligten Privatpersonen, Gemeinden,
Gutsbezirken, Kreisen über ihre Verpflichtung zur Aufbringung von Armenlasten), 88§ 46, 47
(Streitigkeiten zwischen den Betheiligten über ihre im öffentlichen Rechte begründete Verpflicht-
ung zu Abgaben und Leistungen für Schulen, sowie zum Bau oder zur Unterhaltung der-
selben), § 140 (Streitigkeiten zwischen den betheiligten Gemeinden und Gutsbezirken über ihre
Berechtigung oder Verpflichtung zur Theilnahme an den Nutzungen, bezw. Lasten eines Spitzen-
verbandes).
In derartigen Fällen treten selbstverständlicher Weise die „Betheiligten“ sich im Verwalt-
ungsstreite als Parteien gegenüber.
In einigen Fällen tritt auch eine eigenthümliche Verschmelzung von Parteistreitigkeit
und Rechtsbeschwerde ein: Nach §§ 56 und 66 Zust. G. kann nämlich derjenige, welcher durch
Beschluß der Wegepolizeibehörde bezw. Wasserpolizeibehörde zu Leistungen für öffentliche Wege
bezw. zur Räumung von Gräben und sonstigen Wasserläufen verpflichtet erklärt wird, gegen
die Behörde klagen. Erachtet er zu der ihm angesonnenen Leistung aus Gründen des öffent-
lichen Rechts statt seiner einen anderen für verpflichtet, somuß er die Klage zugleichgegen
diesen richten. Zu beachten ist übrigens, daß im preußischen Rechte formell ein Unterschied
zwischen Rechtsbeschwerden und Parteistreitigkeiten nicht zu Tage tritt, da im Verwaltungs-
streitverfahren stets Kläger und Beklagte auftreten müssen.
Welcher Behörde im einzelnen Falle die Wahrnehmung des öffentlichen Interesses ob-
liegt, ergiebt sich aus den einschlägigen Gesetzen; die betr. Behörde erscheint dann als Partei
und ihr Vorstand hat sie im Streitverfahren zu vertreten. Für die mündliche Verhandlung vor
dem Oberverwaltungsgerichte kann jedoch auf Antrag der Behörde der Regierungspräsident
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