§ 95. Das Armenrecht, Armenpolizei und Armenpflege. 409
„Armenanstalten und anderen milden Stiftungen“ handelt, hat in Anerkennung des schon seit
längerer Zeit im preußischen Staate geltenden Rechtszustandes als Grundsatz ausgesprochen,
daß es dem Staate zukommt, für die Ernährung und Verpflegung derjenigen Bürger zu sorgen,
die sich ihren Unterhalt nicht selbst verschaffen und denselben auch von anderen Privatpersonen,
welche nach besonderen Gesetzen dazu verpflichtet sind, nicht erhalten können (§ 1). Denjenigen,
welchen es nur an Mitteln und Gelegenheit, ihren und der Ihrigen Unterhalt selbst zu ver-
dienen, ermangelt, sollen Arbeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten gemäß sind, angewiesen
werden (§ 2), diejenigen aber, die nur aus Trägheit, Liebe zum Müssiggange, oder anderen
unordentlichen Neigungen die Mittel, sich ihren Unterhalt selbst zu verdienen, nicht anwenden
wollen, sollen durch Zwang und Strafen zu nützlichen Arbeiten unter gehöriger Aufsicht ange-
halten werden (§ 3). Dementsprechend ist in den §§ 4 u. 5 vorgeschrieben, daß fremde Bettler
in das Land nicht gelassen oder darin geduldet werden sollen und auch einheimischen Armen das
Betteln nicht gestattet werden soll.
Die als Staatspflicht anerkannte Sorge für die Armen wird sodann in den §§ 9— 15
a. a. O. zunächst den privilegirten Korporationen, welche einen besonderen Armenfonds haben,
oder dergleichen ihrer Verfassung gemäß durch Beiträge unter sich aufbringen, bezüglich ihrer
unvermögenden Mitglieder überwiesen, in zweiter Linie mußten die Stadt= und Dorfgemeinden
für die Ernährung ihrer verarmten Mitglieder und Einwohner sorgen. Endlich hieß es in
§ 15: „Allen Armen und Unvermögenden, denen ihr Unterhalt auf andere Art nicht verschafft
werden kann, muß die Polizeiobrigkeit eines jeden Ortes, ohne Unterschied des Ranges und
sonstigen Gerichtsstandes derselben sich annehmen“.
Nachdem durch die Stein-Hardenberg'sche Gesetzgebung die sozialen und wirthschaft-
lichen Verhältnisse, welche das allgemeine Landrecht bei seinen Vorschriften zur Voraussetzung
hatte, verändert worden waren und namentlich eine allgemeine Freizügigkeit zur Geltung ge-
langt war, erging das G. v. 31/12. 1842 (G.S. 1843 S. 8) über die Verpflichtung zur
Armenpflege, welches im innigsten Zusammenhange stand mit den gleichzeitig erlassenen Gesetzen
über die Aufnahme neu anziehender Personen und über den Erwerb und Verlust der preußischen
Staatsangehörigkeit. Das Armenpflegegesetz gab den im allgemeinen Landrechttheoretisch wenig-
stens noch aufgestellten Grundsatz der Verpflichtung des Staates zur Armenfürsorge auf und
übertrug diese Verpflichtung den Gemeinden und subsidiär den Landarmenverbänden. Die
Verpflichtung oblag, wenn keine andere nach privatrechtlichen Grundsätzen zur Alimentation
verbundene und dazu vermögende Person vorhanden war 1. der Gemeinde in der der Bedürftige
als Mitglied ausdrücklich aufgenommen, oder 2. wenn dies nicht der Fall war, der Gemeinde,
in welcher er seinen Wohnsitz erworben, oder 3. wenn auch dies nicht zutraf, der Gemeinde, in
der er er nach erlangter Großjährigkeit sich drei Jahre lang aufgehalten hatte. In den selbst-
ständigen Gutsbezirken lag die Sorge für die in dem Gutsbezirke und dem dazu gehörigen
Dorfe vorhandenen Armen nicht der Landgemeinde, sondern der Gutsherrschaft für die inner-
halb des Gutsbezirkes wohnhaften Personen ob. Der hiernach erworbene Unterstützungs-
wohnsitz ging verloren durch dreijährige Abwesenheit aus der verpflichteten Gemeinde nach er-
langter Großjährigkeit. Diejenigen Armen, welche keinen Unterstützungswohnsitz hatten, oder
welche die Gemeinde zu verpflegen unfähig war, fielen dem Landarmenverbande ihres Aufent-
haltes zur Last.
An dem mit dem Grundsatze der Freizügkeit im Zusammenhange stehenden im
preußischen G. v. 31/12. 1842 zur Geltung gelangten Systeme des Unterstützungswohnsitzes
hielt das R.G. v. 6/6. 1870 über den Unterstützungswohnsitz (B.G. Bl. S. 360) fest. Das
Münsterberg, die deutsche Armengesetzgebung (1887). — Münsterberg, Art. Armenrecht,
Armenverwaltung, Bettler und Landstreicher, Korrigentenwesen, Nothstandsgesetz-
gebung, Unterstützungswohnsitz in Stengel's Wörterbuch des deutschen Verw.-Rechts, I, S. 65 ff.,
83 ff., S. 842 ff., II, S. 177, S. 864 f. — Grotefend, Preuß. Verw.-Recht, II, S. 68 ff.