412 Sechstes Buch: Die Landesverwaltung. II. Kapitel. § 96.
Maß der im Falle der Hilfsbedürftigkeit zu gewährenden öffentlichen Unterstützung, sowie in
Bezug auf den Erwerb und Verlust des Unterstützungswohnsitzes einem Deutschen gleich zu
behandeln ist 1.
Was die Inländer anlangt, so obliegt die definitive Unterstützungspflicht demjenigen
Ortsarmenverbande, in welchem der Unterstützungsbedürftige seinen Unterstützungswohnsitz hat.
II. Der Unterstützungswohnsitz ist nicht identisch mit dem civilrechtlichen Wohn-
sitze, er ist vielmehr die armenrechtliche Zugehörigkeit zu einem Ortsarmenverbande, die durch
längeren Aufenthalt oder durch familienrechtliche Erwerbsgründe erlangt wird.
1. Erwerb durch längeren Aufenthalt. Als armenrechtlicher Aufenthalt gilt das
aus der freien Willensentschließung des Betreffenden hervorgegangene Verweilen an einem
Orte; dagegen ist es gleichgültig, ob diese Willensbestimmung eine rechtswidrige war; auch der
polizeilich Ausgewiesene und unbefugt Zurückgekehrte kann den Unterstützungswohnsitz erwerben.
Befähigt zum Erwerbe eines selbstständigen Unterstützungswohnsitzes sind alle Männer, welche
das 24. Lebensjahr vollendet haben und Frauenspersonen nach vollendetem 24. Lebensjahre
dann, wenn sie unverheirathet, ledig, geschieden oder Wittwen sind. Der Erwerb tritt ein, wenn
die betreffende Person nach zurückgelegtem 24. Lebensjahre innerhalb eines Ortsarmenver-
bandes zwei Jahre lang ununterbrochen ihren gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hat. Die Frist
läuft von dem Tage an welchem der Aufenthalt begonnen hat. Der Eintritt in eine Kranken-,
Bewahr-oder Heilanstalt gilt jedoch nicht als Beginn des Aufenthaltes. Beginnt der Aufenthalt
unter Umständen, die die Annahme der freien Willensbestimmung bei der Wahl des Aufent-
haltsortes ausschließen, so ruht während ihrer Dauer der Lauf der zweijährigen Frist. Eine
freiwillige Entfernung wird als Aufenthaltsunterbrechung nicht angesehen, wenn aus den Um-
ständen die Absicht der Beibehaltung des Aufenthaltes erhellt. Der Lauf der zweijährigen Frist
ruht während der Dauer der von einem Armenverbande gewährten öffentlichen Unterstützung.
Unterbrochen wird der Lauf der Frist durch den von einem Armenverbande auf Grund des §5
Fr. G. gestellten Antrag auf Anerkennung der Verpflichtung zur Uebernahme eines Hilfsbe-
dürftigen, und zwar kann in diesem Falle die vorher abgelaufene Frist nicht in Anrechnung
kommen. Die Unterbrechung erfolgt mit dem Tage, an welchem der gestellte Antrag an den
betreffenden Armenverband oder die vorgesetzte Behörde eines der betheiligten Armenverbände
abgesandt ist. Sie gilt als nicht geschehen, wenn der Antrag nicht innerhalb zweier Monate
weiter verfolgt wurde, oder wenn derselbe erfolglos geblieben ist.
2. Erwerb durch Verehelichung und Abstammung. Die Ehefrau theilt vom
Zeitpunkte der Eheschließung ab den Unterstützungswohnsitz des Mannes, hat der Ehemann
keinen Unterstützungswohnsitz, so wird auch die Ehefrau eine Landarme. Wittwen und rechts-
kräftig geschiedene Ehefrauen behalten den bei der Auflösung der Ehe gehabten Unterstützungs-
wohnsitz, bis sie ihn nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften verlieren, bezw. einen neuen
selbstständigen Unterstützungswohnsitz erworben haben. Auch während der Dauer der Ehe gilt
die Ehefrau in Bezug auf Erwerb und Verlust des Unterstützungswohnsitzes als selbstständig,
wenn und so lange der Ehemann sie böslich verlassen hat, sowie wenn und so lange sie
während der Dauer einer Haft oder in Folge einer ausdrücklichen Einwilligung oder
kraft landesgesetzlicher Befugniß vom Ehemann getrennt lebt und ohne dessen Bei-
hilfe ihre Ernährung findet. Im Uebrigen muß die Trennung eine, wenn auch nicht lebens-
längliche, doch auf absehbare Zeit dauernde sein. Wesentlich ist das Moment der Ernährung
ohne Beihilfe seitens des Mannes; Beihilfen von privater Seite oder ganz ungenügende
Zuwendungen des Mannes fallen nicht in Betracht (§ 17 U. W. G.).
Eheliche, den ehelichen gleich stehende und uneheliche Kinder theilen den Unterstütz-
ungswohnsitz des Vaters, bezw. der Mutter, im Falle des Todes oder der Scheidung denjenigen
1) Vgl. auch den Niederlassungsvertrag des deutschen Reiches mit der Schweiz v. 31/5. 1890
Art. 11.